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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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drückte. Und dann der Moment, in dem das Rumpeln der ­Räder aufhörte, das Rütteln der Maschine, und man auf einmal in der Luft war. Sie hatte Geschwindigkeit aufgenommen, aber gar nicht einmal so sehr viel, damit sie Reserven hatte, wenn sie in den Steigflug ging. Sie sah den Flugplatz und das Städtchen Schleißheim wegkippen wie ein Bild, das man aus der Hand legte, und dann stieg sie in gleichmäßigem Bogen in den Himmel.
    Luise spürte noch heute, wie sich das angefühlt hatte. Der Novemberhimmel war blasser gewesen als der Frühlingshimmel über der Wiese, aber die beiden Bilder schoben sich übereinander und verschmolzen.
    Wie sie es die ganze Nacht geübt hatte, wie sie es sich vorgestellt hatte, und dabei mit dieser tiefen Befriedigung, dass der Flug sich so vollkommen anfühlte, genau so glitt dann die Landschaft wieder in ihren Blick, nur war die Erde jetzt der Himmel, und an diesem gleichmäßigen Gleiten der raureifweißen Felder, der roten Dächer, der Schlote, die nach unten rauchten, daran sah sie, dass sie den Looping einwandfrei flog. So perfekt war das Rund, dass sie unten nicht in den Geradeausflug überging, sondern ohne Ansatz einen zweiten Looping flog, weil sie dieses wunderbare Gefühl des Fallens noch einmal haben wollte. Noch einmal der Welt entgegenfallen und dabei wissen, dass man den Boden einfach wegkippen lassen konnte, wenn man wollte, dass man ewig weiter fallen konnte, ohne jemals aufzuschlagen. Während der Landung hatte von Schleich mit in die Hüften gestemmten Armen zugesehen, hin und her gerissen zwischen Ärger wegen ihres unerlaubten zweiten Loopings und überraschter Bewunderung. Greben hatte einen Schritt hinter ihm gestanden und lautlos lachend beide Daumen gehoben, als Luise aus dem Flugzeug kletterte. Am Abend dieses Tages hatte sie ihn das erste Mal geküsst.
    Ein Roter Milan geriet in Luises Blickfeld. Er schwebte in großer Höhe in eleganten Kreisen. Seine Handschwingen ­stellten sich mit kleinen, weichen Bewegungen, die ihn auf gleicher Höhe hielten. Kreis um Kreis zog er durch Luises Stück Himmel immer weiter ostwärts, bis er schließlich aus ihrem Blickfeld verschwand und sie den Kopf hätte drehen müssen, um ihm mit den Augen weiter zu folgen. Sie spürte die Sonne auf ihren Wangen brennen. Oder war es die Erinnerung an den Kuss?
    Ich habe Greben nicht geküsst, weil ich ihn liebte, gestand sie sich zum ersten Mal ein und drehte jetzt doch den Kopf nach dem Milan, der so vollendet segelte, ich habe ihn geküsst, weil ich das Fliegen nicht küssen kann.

    Obwohl sie doch beide das Fliegen so liebten, überlegte sie, waren sie gar nicht oft zusammen geflogen. Am Anfang, ja, als sie eben den Kunstflugschein gemacht hatte, auf ein paar Schauen im Norden. Im Sommer 1931 in den Ostseebädern. Oh, sie hatte schon etwas gesehen vom Reich, sie war herumgekommen. Bei dem großen Kunstflugtag in Kopenhagen war sogar Udet dabei gewesen. Aber dann musste sie eben doch auch studieren, und das kostete viel Zeit und viel Geld. Manchmal hatte sie nicht einmal genug, um die Anmeldegebühr für eine Kunstflugschau bezahlen zu können. Manchmal konnte man einen Reklameflug machen, das brachte etwas Geld, und dann konnte sie wieder an einem Kunstflugwettbewerb teilnehmen. Das war am Anfang aufregend gewesen und wunderbar, und sie war ja dankbar für jede Möglichkeit, in der Luft zu sein. Aber die wirkliche Freiheit erreichte sie eben doch nie. Dafür hätte sie ein eigenes Flugzeug haben müssen. Dann hätte sie vielleicht einmal fliegen können, wohin sie wollte. Einmal über den Atlantik. Oder wenigstens über die Alpen nach Italien oder über das Mittelmeer nach Afrika!
    Die Sonne stand jetzt sehr hoch und begann zu blenden. Das Gras um sie herum wurde trocken, und ihr wurde allmählich warm. Der Himmel über ihr war leer.
    Vielleicht ist es nicht das Fliegen, überlegte sie, oder zumindest nicht nur das Fliegen. Auf einmal hatte sie das Gefühl, als hätte sie noch niemals weiter gedacht als bis zu diesem Punkt. Was stand denn wirklich dahinter? Weshalb war sie bei den Wandervögeln gewesen, die jetzt auch verboten waren? Weshalb hatte sie als junges Mädchen nachts das Fahrrad herausgeholt und war die ganze Nacht gefahren? Weshalb hatte sie schließlich mit Georg damals ein Flugzeug bauen wollen? Es war immer nur alles Mittel zum Zweck gewesen, fand sie mit einer leisen Überraschung. Was sie eigentlich wollte, war immer nur eines gewesen: ganz und gar frei zu sein.

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