Ein Lied über der Stadt
Frei, dachte sie mit wehmütiger Sehnsucht, wie ein Vogel.
Wahrscheinlich war das auch der Grund, weshalb sie die Verlobung mit Greben gelöst hatte. Als sie nach München gekommen war, da war er derjenige gewesen, der ihr ein Tor aufgestoßen hatte. Greben hatte ihr das ermöglicht, was sie am meisten gewollt hatte. Aber über die letzten vier Jahre hin hatte sie nicht mehr Freiheit dazugewonnen. Sie hatte immer mehr Freiheit verloren.
Luise hatte genug davon, in den Himmel zu sehen, und drehte sich auf den Bauch. Die Sonne schien ihr auf den Rücken, und die Taufeuchte aus Rock und Bluse trocknete rasch. Sie stützte das Kinn in die Hände und sah auf die winzige Welt zwischen den Wildblumenhalmen. Käfer eilten auf unverständlichen Wegen hin und her, winzige Fliegen bewegten sich in komplizierten Manövern, die man niemals nachfliegen könnte, millimetergroße Spinnen schwebten an Fäden, die man beim besten Willen nicht erkennen konnte. Das war alles noch viel kleiner als in ihrer Stadt, aber es war nicht eng. Jedes Tier bewegte sich vollkommen frei, nur nach seiner Natur. Luise versank in der Beobachtung dieses Fleckchens und in ihren Gedanken. Die Tiere auf der Wiese waren frei. Die Vögel waren frei. Nur ihre Welt, die dazwischen lag, wurde jeden Tag enger.
Greben, der verlangt hatte, dass sie als Ehefrau zu Hause bleiben müsse. Kein Fliegen, kein Unterrichten. Dafür Kinder. Hätte nicht gerade er wissen müssen, was es bedeutete, nicht mehr fliegen zu dürfen?
Die Zeitungen, die auf einmal aus dem Café verschwunden waren. Und die Bücher aus der Bibliothek. Luise war froh, dass sie die Bibliothek ihres Vaters nutzen konnte. Erst wenn man vor den Regalen stand, sah man, was es in der Öffentlichkeit alles nicht mehr gab.
Tausend kleine Freiheiten waren verschwunden. Vor allem für die Frauen. Man trug keinen Bubikopf mehr. Keine knielangen Röcke. Man rauchte nicht mehr auf der Straße – nicht, dass Luise geraucht hätte, aber es war eine prinzipielle Frage. Immer weniger Mädchen studierten. Immer weniger Frauen arbeiteten. Und immer weniger Frauen flogen.
Luise starrte auf die Insekten. Vielleicht war es besser, wenn man sich der Unfreiheiten nicht bewusst war, wenn man nicht an sie dachte. Man starb ja nicht daran. Vielleicht ließ es sich dann gut leben. Nicht denken, sondern einfach sein. Wenn man keine Mauern sah, dann waren da auch keine. Wenn man nicht geradeaus gehen konnte, war es vielleicht besser, wenn man die Straße dorthin gar nicht sah.
Luise stand auf. Es hatte wohl keinen Sinn, sich Gedanken darüber zu machen. Es war einfach so. Sie konnte es nicht ändern. Man konnte froh sein, dass einem wenigstens ein Rest Freiheit blieb. Wie die, am Vormittag in einer Wiese liegen zu können. Unverhofft musste sie aber doch noch einmal an Dr. Mandl denken. Sie würde arbeiten dürfen. Er nicht mehr. Was war das für eine Welt, in der so ein kleines Stückchen Freiheit des einen auf Kosten des anderen gewonnen wurde?
Während sie langsam auf die Stadt zuging, sah sie sich um. Nichts hatte sich verändert. Die Wiesen waren so wie vor sechs Jahren. Die Häuser leuchteten so weiß wie eh und je im Mai. Die Apfelbäume blühten. Vielleicht musste man so sein wie das Land – unbeeindruckt von dem, was um einen herum geschah. Vielleicht musste man so sein, dass einen alles nichts anging.
Aber als sie endlich in die dunkle Kühle des Pfarrhauses trat, da war es still, und Luanas Singen fehlte ihr auf einmal sehr.
6
Es war kein regnerischer, aber doch sehr trüber Tag, an dem Luise ihren Vater auf den Kirchhof der Stadt begleitete. Zwar war es nicht ihre Gewohnheit, zu Beerdigungen mitzukommen – dazu war das Städtchen denn doch zu groß – aber der Verstorbene war ein Junge, den sie noch aus der Zeit kannte, als sie ab und zu bei den Jungscharfreizeiten ihres Vaters ausgeholfen hatte. Sie erinnerte sich an ihn als wendigen, aufgeweckten Zehnjährigen, der für sein Alter erstaunlich witzig sein konnte. Sie hatte ihn gern gemocht, obwohl sie ihn natürlich in den letzten sechs Jahren nicht gesehen hatte, und war betroffen gewesen, als sie hörte, er sei im Steinbruch verunglückt. Erst als sie beim Friedhof anlangten, sah sie, dass er wohl bei der HJ gewesen war, denn beim Eingang hatte sich eine ganze Rotte Jugendlicher versammelt, die ihre Standarten an die weiße Friedhofsmauer gelehnt hatten und darauf warteten, dass die Beerdigung begann. Luise sah zu ihrem Vater hinüber. Der hatte
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