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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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die Brauen hochgezogen, sagte aber nichts und beeilte sich, in die Aussegnungskapelle zu kommen. Luise sah unter den Hitlerjungen noch das eine oder andere bekannte Gesicht. Den HJ-Führer dagegen kannte sie nicht; es war ein untersetzter Mann um die dreißig, an dem die braune Uniform so unförmig und unvorteilhaft aussah, dass Luise beinahe gelacht hätte. Dann stand da noch der NS-Kreisleiter Gerstenberger, der gleichzeitig kommissarischer Bürgermeister der Stadt war. Der hatte als Gerber gearbeitet, bevor er im Krieg ein Bein verloren hatte und dann in die NSDAP eingetreten war. Luise hatte einmal eine seiner Reden gehört, als Junge ihn in die Schule eingeladen hatte. Damals hatte sie sich gewundert, wie ihr doch immerhin intelligenter Lehrer mit so einem dumpfen, bräsigen, offensichtlich dummen Menschen in einer Partei sein konnte. Heute wunderte sie sich nicht einmal mehr, dass so ein durch und durch primitiver Handwerksgeselle eine Stadt führen durfte. Gerstenberger trug ebenfalls Uniform, was bei ihm genauso grotesk aussah, weil er nur ein Bein hatte. Das sind die Spitzen der Partei in unserer Stadt, dachte Luise spöttisch.
    Die Familie des Toten war schon bei der Aussegnungshalle, und auch Luise ging nun den Weg entlang dorthin. Die HJ-Gruppe blieb noch vor dem Tor, sie war wohl noch nicht vollzählig.
    Die Totenglocke läutete. Die Trauergemeinde, die bis jetzt vor den Stufen der Halle gestanden hatte, setzte sich allmählich in Bewegung. Luise folgte ihr, und nun marschierte auch die HJ hinter dem NS-Kreisleiter in den Friedhof. Die Jungs hatten sich formiert und zogen zu dumpfem Trommelschlag in fast militärischem Gleichschritt zur Kapelle. Das Kommando »Halt!« klang unpassend scharf in der Atmosphäre gedämpften Murmelns. Die meisten Leute waren auf der Treppe stehen geblieben, während die HJ heranmarschiert war, aber jetzt gingen sie – darunter auch Luise – in die Kapelle und suchten sich ihre Plätze in den Bänken. Luise saß immer gerne hinten, und heute war es sowieso angemessen, denn schließlich gehörte sie weder zur Familie noch zu den engen Freunden des Verstorbenen. Als alle saßen, zog die HJ ein, teilte sich und blieb dann an den Wänden rechts und links stehen. Nur der NS-Kreisleiter und der HJ-Führer gingen im Mittelgang bis nach vorne und setzten sich dreist auf die Plätze, die neben der Familie frei geblieben waren und auf die sich bei all den anderen Bestattungen, an die sich Luise erinnerte, aus Pietät niemand gesetzt hatte.
    Die Glocke schwang aus, und die Orgel setzte ein. Luises Vater kam aus der Sakristei und ging unter den Klängen des Vorspiels am Sarg vorbei zum Altar, vor dem er mit dem Rücken zur Gemeinde stehen blieb.
    Obwohl es der erste Gottesdienst war, den Luise seit ihrer Rückkehr besuchte, fand sie sich doch sofort ein. Es war alles wie gewohnt, wie sie es schon hundert Mal erlebt hatte. Gebet und Gemeindelieder, eine kurze Liturgie, die ihr Vater mit seiner nicht sehr vollen, aber klaren Stimme sang, und dann wieder ein gemeinsames Gebet. Danach die Ansprache, die er, wie sie fand, sehr gut und sehr treffend hielt und zudem mit jener winzigen Prise schmerzlichen Humors bereicherte, die deutlich machte, dass der Prediger keine abgebrauchten Worte aufsagte, sondern bedauerte, einen Menschen seiner Gemeinde verloren zu haben.
    Luise sah verschiedentlich Köpfe nicken, eine stille Form der Zustimmung.
    Als ihr Vater fertig war, nickte er dem NS-Kreisleiter zu, der geräuschvoll aufstand und mit einem hallenden Klack-Klick, Klack-Klick von Stiefelabsatz und Holzbein nach vorne ging. Luise musste sich auf die Lippen beißen, um nicht loszulachen, weil seine pompöse Art so im Widerspruch zu seiner primitiven Erscheinung stand. Auch die übermäßig militärisch-zackige Art, sich als Kriegsversehrter wie ein junger Soldat neben den Sarg des Toten zu stellen, wirkte so lächerlich wie in den Charlie-Chaplin-Filmen, die sie in München geliebt hatte. Wie ein Kind, das Kaiser spielte, nur durfte Gerstenberger wirklich regieren. Er zog einen Zettel aus der Uniformbluse, entfaltete ihn und begann. Luise war an sich keine, die sich über jemanden lustig machte, der Dialekt sprach. Sie selber hatte immer noch einen leichten Münchener Einschlag. Aber der schwere fränkische Zungenschlag in Verbindung mit den martialischen Phrasen, die Gerstenberger jetzt von sich gab, war schwer zu ertragen. Luise fing den Blick ihres Vaters auf, doch der stand unbewegt seitlich

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