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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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einfach geschwiegen? Den nimmt man doch nicht ernst, wenn er so was sagt. Jeder weiß, dass er nur durch die Partei überhaupt hochgekommen ist. Wieso, glaubst du, ist der seit zwei Jahren nur kommissarischer Bürgermeister? Weil sogar die in der Partei wissen, dass er zu blöd dafür ist.«
    »Es sagt aber keiner«, warf Luise ein.
    Paul warf sich in seinem Stuhl zurück, wütend, weil die anderen nicht zu verstehen schienen. »Warum wohl?«, rief er. »Warum? Wollt ihr wirklich ins Konzentrationslager? Wirklich?«
    »Paul!«, sagte ihr Vater jetzt laut. »Was soll das? Mach ihr keine Angst.«
    Paul hielt es nicht mehr auf dem Stuhl. Er sprang auf und ging nervös im Zimmer auf und ab. »Angst machen? Ich mache niemandem Angst. Das ist genau das, was passieren kann!«, rief er.
    Luises Vater wurde jetzt auch lauter. »Weißt du, was diese Kanaille gesagt hat? Er hat von einem himmlischen SA-Sturm gefaselt. Dass Horst Wessel ein Märtyrer sei! Er hat den Gottesdienst gestört, und er will die Leute glauben machen, dass der Nationalsozialismus von Gott gewollt ist. Und wenn eines sicher ist, dann das: Gottgefällig ist das nicht! Weißt du was?«
    Er ereiferte sich immer mehr, hatte sich im Stuhl zurückgelehnt und sprach jetzt sehr laut. Da brach sich etwas Bahn, was sich schon länger in ihm angestaut hatte: »In den altpreußischen Kirchen hat die Gestapo die Kollekte beschlagnahmt! Die Kollekte, die für kirchliche Zwecke bestimmt ist! Sie versetzen Pfarrer, weil sie ihnen nicht passen. Wenn die Bischöfe nicht zur nationalen Kirche gehören, werden sie entlassen. Sie legen die HJ-Nachmittage auf die Zeit des Konfirmandenunterrichts. Sie führen die Sonnwendfeiern wieder ein – anstelle von Weihnachten, sagen sie. Sie nennen unseren Gott den Judengott! Wie soll ich denn da zusehen und schweigen? Die Texte für die Morgenandachten im Rundfunk müssen vorher eingereicht werden, damit sie inhaltlich › entjudet ‹ werden können! Fehlt noch, dass sie uns Jesus vom Kreuz nehmen, weil er keine arischen Vorfahren hatte! Die Nazis zerstören die Kirche und wollen, dass wir an den Führer glauben wie an einen neuen Christus! Das kann ich nicht. Das widerspricht allem, was ich glaube.«
    Eine kleine Stille folgte. Alle hatten aufgehört zu essen. Luise hatte noch einmal das Bild vor Augen, wie ihr Vater dem Kreisleiter verbot, den Gottesdienst zu stören. Auf einmal war sie trotz ihrer Besorgnis stolz auf ihn.
    »Paul«, sagte sie, »Papa hat recht. Vielleicht … er hat das Richtige getan. Man kann nicht immer nur schweigen.«
    Paul sah sie groß an. Dann sagte er leise: »Ihr versteht es nicht, oder? Ihr habt gar keine Ahnung. Ihr lebt in einer Traumwelt. Das lassen sie niemals durchgehen. Niemals.«
    Er ging aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich, sehr sachte, als wolle er niemanden verletzen. Es war diese kleine Geste, die Luise mehr Angst machte als alles andere.

    Aus dem trüben Tag wurde ein frühlingslanger, aber ebenso trüber Abend, an dem es auch noch zu nieseln begann. Jeder hatte sich zurückgezogen: Luises Vater in sein Arbeitszimmer, Paul war ausgegangen, Luana war auf ihrem Zimmer. Es war nicht richtig kalt, aber unfreundlich, und Luise, die kühles Wetter an sich gut leiden konnte, wenn es klar war, hätte sich gewünscht, dass angeschürt wurde. Aber so ging sie eben in die Küche, in der sich noch die Wärme vom Kochherd gehalten hatte, um dort zu lesen. Sie tat das manchmal, denn die Küche war für sie seit Kinderzeiten ein heimeliger Ort gewesen. Es roch gut und war fast immer warm, und selbst, wenn man kein Licht anschaltete, leuchtete es meist hell aus dem Herd, in dem ja stets ein Feuer brannte. In München hatte Luise einen Elektroherd gehabt, aber hier in der Provinz, im alten Pfarrhaus, war die Moderne noch nicht eingezogen. Sie hatte das westliche Fenster halb geöffnet und sich dorthin gesetzt, um das Abendlicht zum Lesen zu haben. Dieses Fenster ging auf den Teil des Gartens, in dem die Remise und der Schuppen standen, während man durch das auf der östlichen Seite in den eigentlichen Garten mit den Kräuterbeeten und Luanas Blumen blickte.
    Luise las Kästners Gesang zwischen den Stühlen . Es war so ein melancholisches Buch, das man las, wenn man Trost brauchte oder wenigstens mit seiner Traurigkeit nicht allein sein wollte.

    Man möchte fort und findet kein Versteck.
    Es wäre denn, man ließe sich begraben.
    Wohin man blickt, entsteht ein dunkler Fleck.
    Man möchte tot

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