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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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einmal im Monat komme, und da hat er dann nur genickt. Wahrscheinlich ist es besser, wenn er es nicht weiß.«
    »Hör zu«, sagte Luise bestimmt, »geh deine Blätter holen. Und nimm die Matrize mit! Du kannst jetzt eine Zeit lang nicht mehr kommen.«
    Georg sah sie überrascht an. Er zögerte, bevor er fragte: »Hat es … ist es wegen damals? Willst du deswegen nicht, dass …« Er unterbrach sich selbst, holte tief Luft und sagte dann schnell: »Es tut mir leid. Es tut mir sehr leid, was ich damals getan habe. Es war dumm und gemein. Ich … ich …«, er sprach den Satz nicht zu Ende.
    Luise schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht deswegen. Hast du es noch nicht gehört? Mein Vater hat sich heute mit dem Kreisleiter angelegt. Bei der Beerdigung vom Martin. Und wenn sie womöglich kommen und das Haus durchsuchen und dann deine Flugblätter finden … ich will einfach nicht, dass ihm etwas passiert.«
    Georg nickte. Er wandte sich zum Schuppen, aber dann drehte er sich noch einmal um und sah so jungenhaft aus wie damals, als er hastig ansetzte: »Kannst du …« Er vollendete den Satz nicht, sondern fügte nur noch schnell an: »Dein Vater ist ein mutiger Mann. Wirklich.«
    Luise beobachtete von der Terrasse aus, wie Georg in die Remise eilte, sah nach kurzer Zeit das Licht ausgehen und ihn dann wie einen Schatten rasch den Hof verlassen. Leise drückte er das Gartentor zu, das metallische Klicken des Schlosses drang gedämpft durch den Garten. Dann war er fort.
    Luise lehnte sich an die feuchte Mauer des Hauses und dachte nach. Sie hatte Georg seit Jahren nicht gesehen, und sie hatte keine Ahnung davon gehabt, dass Papa und er miteinander zu tun hatten. War das ein Zufall? Vielleicht war es auch einfach diese neue Zeit, die seltsame Allianzen stiftete. Georg, der überzeugte Sozialist, der von der Kirche nie etwas hatte wissen wollen. Papa, der mit der Sozialdemokratie noch nie etwas anfangen konnte. Vermutlich ist das so, wenn man nach längerer Zeit in sein Elternhaus zurückkehrt, dachte sie, man glaubt dann, nur man selbst habe sich verändert und die anderen blieben immer gleich. Aber ihr Vater hatte sich verändert. Paul hatte sich verändert und wahrscheinlich auch Georg. Aber trotzdem kam, wenn sie an Georg dachte, immer nur das Bild des zerschlagenen, zertrümmerten Flugzeugs. Sie hatte sich damals nie eingehender gefragt, wieso Georg das getan hatte. Sie hatte es einfach als Zeichen genommen, dass sie von hier fortgehen musste. Aber jetzt war sie wieder da. Genauso flügellahm wie das zerstörte Flugzeug. Abrupt stieß sie sich von der Wand ab, ging durch die Hintertür wieder ins Haus, lief durch den düsteren, kühlen Gang und klopfte schließlich an die Tür des Arbeitszimmers.
    »Ja«, kam von innen die Stimme ihres Vaters.
    Sie klinkte die Türe auf und ging hinein. Sie hatte das Arbeitszimmer immer mit einer gewissen Scheu betreten. Es war so ganz anders als der Rest des Hauses. Die vielen Bücher in den Regalen an jeder verfügbaren freien Wand, der schwere Schreibtisch mit dem schwarz glänzenden Telefon darauf, die vielen Stempel in dem kleinen Blechkarussell, das alles nahm sich in einem Wohnhaus, das sonst eine etwas nachlässige Gemütlichkeit ausstrahlte, ein wenig fremd aus.
    Ihr Vater stand neben dem Schreibtisch und las in einem Buch. Jetzt sah er hoch und bedeutete ihr mit einer Kopfbewegung hereinzukommen. »Na?«, fragte er. Seinem Ton hörte man an, dass er bedrückt war, auch wenn er versuchte, heiter zu klingen.
    »Ich habe Georg in der Remise gesehen«, sagte Luise ohne Umschweife, »er hat dort Flugblätter gedruckt.«
    Ihr Vater sah sie etwas unsicher an. »Ja«, nickte er dann, »ich weiß.«
    Luise wartete.
    »Es ist nichts Falsches«, verteidigte er sich. »Sie werden genauso schikaniert wie wir. Und nur deshalb, weil sie anders denken. Das ist niemals ein gutes Zeichen. Im März hat drüben in Reuth die SA einen alten Werkmeister halb totgeschlagen, nur weil er im Wirtshaus gesagt hat, dass die neue Wehrpflicht ein Verbrechen an der Jugend ist. Es kann nicht falsch sein, die Wahrheit zu sagen, nur weil sie keiner hören mag.«
    Luise sah ihn an. Er sagte das nicht nur so, er meinte es. Und er machte es sich bestimmt nicht leicht. Er war ja kein Unruhestifter. So wie er vor dem Regal stand, in der strengen Atmosphäre des Arbeitszimmers, ein Buch in der Hand und im halblangen, hochgeknöpften Lutherrock, sah er ein wenig aus, wie man sich einen mittelalterlichen Mönch

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