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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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vorstellte. Aber sie lebten nicht mehr im Mittelalter.
    »Papa«, sagte Luise leise und drängend, »ich weiß. Du willst … dir ist an der Wahrheit gelegen. Aber es ist gefährlich. Du kannst Georg nicht mehr kommen lassen. Nach heute schon gar nicht! Ich denke immer … du kommst mir immer so vor, als würdest du glauben, dass sie … dass dir nichts passieren kann, aber …«
    Ihr Vater unterbrach sie. Er sprach jetzt sicher und ruhig. »Nein. Ich weiß, was passieren kann. Ich bin dem Pfarrernotbund beigetreten, weil ich gesehen habe, was sie mit unserer Kirche machen. Ich habe mich mit flammendem Herzen«, hier lächelte er unvermutet über seine altmodische Formulierung, dass Luise ganz seltsam berührt wurde, »für die Bekennende Kirche entschieden, weil wir in Bedrängnis sind. Du möchtest, dass ich schweige, oder?«
    Er sah sie an. Luise fühlte sich an Augenblicke in Kinderzeiten erinnert, als sie auch im Amtszimmer vor ihrem Vater gestanden war, weil sie etwas ausgefressen hatte und vor diesem ruhigen Blick nicht anders konnte, als die Wahrheit zu sagen. Sie hob fast trotzig die Hände. »Ja. Ich denke, es wäre klug. Du bringst dich unnötig in Gefahr. Du bringst uns in Gefahr.«
    Ihr Vater lächelte wieder. Diesmal so, wie er lächelte, wenn er Kranke besuchte; voller Mitgefühl und einem leisen Bedauern. »Du hast deinen Glauben verloren«, stellte er fest.
    Luise setzte an, um zu protestieren, aber dann überlegte sie. Und fast von sich selbst überrascht stellte sie fest, dass er recht hatte. Sie war auch in München immer wieder in die Kirche gegangen, aber trotzdem stimmte es: Der Glaube war ihr verloren gegangen. Der Kirchgang, das Singen, das Tischgebet – das war nur noch Beiwerk, liebgewonnene Gewohnheit, die man aus Sentimentalität nicht aufgab. Ja, dachte sie und nickte.
    »Ja«, sagte ihr Vater, »das macht nichts. Das gehört dazu. Aber deshalb hast du Angst. Weil du nicht mehr weißt, was richtig ist.«
    »Doch«, sagte Luise plötzlich hitzig, »das weiß ich schon! Ich weiß, dass es falsch ist, was die machen. Aber ich weiß auch, wer die Macht hat und wer nicht. Und wir haben sie nicht.«
    »Siehst du«, sagte ihr Vater und stellte das Buch sorgfältig ins Regal zurück, »und das stimmt eben nicht. Die Macht ist in der Wahrheit. Und wenn sie tausendmal die Lüge zur Wahrheit erklären. Gottes Wort bleibt Gottes Wort und …«
    Im Gang bellte der General. Man hörte seine Pfoten auf dem Steinboden klicken, als er zur Tür lief.
    Luises Vater hob fast entschuldigend die Achseln, als er sagte: »Ich glaube nun mal, dass Gott die Wahrheit ist. Wie kann ich da etwas anderes sagen?«
    Luise wollte antworten, aber der Hund hörte nicht auf zu bellen, und dann hörten sie die Klingel. Sie sah automatisch auf ihre Uhr. Es ging auf zehn zu. In Pfarrhäusern wird oft zu ungewöhnlichen Zeiten geklingelt, weil Krankheit und Tod nicht nach Tageszeiten kommen, aber trotzdem wusste Luise sofort, dass es sich nicht um einen Seelsorgefall handelte, und plötzlich zitterten ihre Knie. »Ich gehe schon«, sagte sie und wollte aus dem Arbeitszimmer, aber ihr Vater hielt sie am Arm fest.
    »Ich gehe«, sagte er, holte tief Luft und ging zur Tür.

    Es waren drei Männer, davon zwei Gendarmen der städtischen Polizei, und es ging alles viel ruhiger, schneller und banaler, als Luise sich das vorgestellt hatte. Es gab kein Geschrei und keine Aufregung. Die Polizisten befahlen ihrem Vater, sich auszuweisen, obwohl sie ihn doch seit Jahren kannten. Dann teilten sie ihm mit, dass er zur Vernehmung mitkommen müsse.
    Und dann gingen sie fort. Ohne dass Papa eine Jacke angezogen hätte oder sonst etwas, sie nahmen ihn einfach mit. In der Gasse stand das Polizeiauto, sie stiegen ein und fuhren ab.
    Luise stand in der offenen Tür und schüttelte den Kopf. Es war, wie wenn man zu lange getaucht war und Wasser in den Ohren hatte. Alles hörte sich auf einmal fremd und gedämpft an. Alles war so schnell gegangen, dass weder Paul noch Luana etwas mitbekommen hatten. Langsam, wie mit großer Mühe, schloss sie die Haustür. Jetzt ist es passiert, dachte sie immer wieder, jetzt ist es passiert. Dann ging sie nach oben, um Paul Bescheid zu sagen.

9

    In dieser Nacht schlief niemand richtig. Nachdem Luise Paul und Luana erzählt hatte, was geschehen war, nachdem sie alles Mögliche und Unmögliche durchgesprochen hatten, nachdem Paul schon halb entschlossen war, zur Wache zu gehen, um nachzufragen, und von Luana und

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