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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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zu Beginn der Stunde gesungen wurde, durch das Fenster hindurch die Schwalben gesehen, die mit so atemberaubender Leichtigkeit stürzten und stiegen, und dabei gedacht, dass so wohl ein Herz aussähe, wenn es ausginge: leicht und frei. Alles in diesem Lied war frei und in Bewegung.
    Ihr Vater trat aus der Sakristei. Man sah ihm die vorangegangene Auseinandersetzung nicht an. Er wirkte gefasst und ruhig wie immer.
    »Unser Anfang und unsere Hilfe stehen im Namen des Herrn …«, begann er, und die Gemeinde ergänzte in automatischem, etwas dumpfem Gemurmel: »… der Himmel und Erde gemacht hat.«
    Der Gottesdienst hatte begonnen.
    Das vertraute, seit ihrer Kindheit unerschütterlich gleiche Wechselspiel der Liturgie war beruhigend, ob man nun glaubte oder nicht. Es war fast, als ob sich in zwanzig Jahren nichts geändert hätte. Während ihr Vater vor dem Altar stand und der Gemeinde den Rücken kehrte, hörte sie die Tür gehen, drehte sich – wie die meisten in der Gemeinde – unwillkürlich um und sah den Mesner hereinkommen. Er war nicht allein. Zwei Männer waren bei ihm, von denen Luise nur einen kannte. Er war bei der Partei, das wusste sie. Sie setzten sich sofort in die letzte Bank. Luise spürte die Unruhe und die Angst zurückkehren und hoffte nur, dass Papa sie sah, wenn er sich wieder umdrehte. Aber falls er die drei Männer bemerkte, als er durch die Sakristei zur Kanzel hinaufstieg, so konnte Luise es ihm nicht ansehen, und die Spannung ließ ein wenig nach, als ihr Vater mit der Predigt begann. Wahrscheinlich hatte er sie doch gesehen, denn er hatte sich Zeit gelassen, bevor er zu sprechen anfing, hatte noch einmal seine Papiere geordnet und zögernd begonnen. Aber dann sprach er über die Fronleichnamsprozessionen, die in den wenigen katholischen Dörfern ringsum heute begangen wurden, gab der Predigt sogar eine heitere Note, als er eine Anekdote aus seiner Jugend erzählte, dass nämlich in seiner Heimat die protestantischen Bauern mit Absicht am Fronleichnamstag Heu eingefahren hätten, um die Katholiken zu ärgern, wohingegen die Katholiken wiederum am Karfreitag Mist ausbrachten, um es den Evangelischen heimzuzahlen. Luise lächelte. Sie kannte die Geschichte schon. Ihr Vater mahnte die Gemeinde, dass man Respekt vor jenen haben müsse, die ihren Glauben zeigten – auch, wenn es Andersgläubige seien. Er sagte nicht: Katholiken. Aber daraus, dachte sie immer noch gespannt, kann man ihm keinen Strick drehen. Trotzdem wandte sie sich zum Mesner und seinen Begleitern um. Er saß vornübergebeugt und machte sich offenbar Notizen. Sie wünschte, er hätte aufgeblickt, damit er sah, wie sehr sie ihn verachtete, aber das tat er nicht. Die beiden Männer dagegen hatten sich gelangweilt zurückgelehnt und machten mit ihrer lässig-herrischen Körperhaltung deutlich, wie sie der Gottesdienst langweilte. Der Mesner warf nur ab und zu einen Blick hinauf zur Kanzel. Ob ihr Vater das bemerkte, konnte Luise nicht sagen. Jedenfalls sagte er nichts Verfängliches, nichts, was ihm eindeutig als offene Kritik hätte ausgelegt werden können. Nichtsdestotrotz atmete sie auf, als er die Predigt mit der üblichen Formel schloss und die Orgel wieder einsetzte. Ihr Vater sang mit, während er aus der Sakristei kam und zum Altar trat. Die Fürbitten noch, und der Segen. Dann war der Gottesdienst vorbei. Luise hörte den Stundenschlag durch den Gesang; es war schon halb elf. Papa stand mit dem Rücken zur Gemeinde. Das Lied war zu Ende. Die Gemeinde erhob sich raschelnd zum Gebet.
    » Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen … «
    Die Stimme ihres Vaters war klar über dem Teppich aus halblautem Gemurmel zu hören. Das Glaubensbekenntnis endete, die Gemeinde blieb für die Fürbitten stehen.
    »Wir bitten für alle Menschen, damit sie im Glauben fest und im Tun christlich bleiben«, begann er.
    Nach jeder Fürbitte antwortete die Gemeinde. »Herr, erhöre uns.«
    »Wir bitten schließlich«, sagte ihr Vater am Ende, »für all jene, die ihres Glaubens wegen verfolgt werden. Wir bitten insbesondere für all die Pfarrer der Bekennenden Kirche, die im Konzentrationslager Dachau ihres Glaubens wegen leiden. Wir bitten dich: Gib ihnen Kraft zum Glauben und uns zum Helfen. Herr, erhöre uns!«
    Die Gemeinde sprach die Formel mit und endete mit »Amen«. Luise hatte scharf eingeatmet. Er hatte es doch getan. Sie sah, wie er sich umdrehte, den mit weißem Tuch ausgelegten Kollektenkorb in der Hand. Und sie

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