Ein Lied über der Stadt
er vor der Sakristei, die am Seitenschiff einen Ausgang nach Norden hatte. Sie wollte schon hingehen, als sie eine zweite Stimme hörte, die ihrem Vater antwortete. Dünn und ohne jede Sprachmelodie war es unverkennbar die des Mesners. Man konnte hören, dass sie stritten, und Luise wollte schon weggehen, aber dann dachte sie an die Szene vor Feinmanns Geschäft und kam näher, blieb aber im Schatten der vorspringenden Stützstreben. So konnte sie den Mesner gerade noch sehen, nicht aber ihren Vater.
»Es ist verboten«, sagte der Mesner eben giftig, aber trotzdem irgendwie tonlos, »das dürfen Sie gar nicht von mir verlangen, und Sie wissen das ganz genau.«
Luise kannte ihren Vater, wenn er wütend war. Er wurde dann nicht unbedingt laut.
»Sie sind Angestellter dieser Gemeinde«, hörte sie ihn scharf antworten, »und ich bin Ihr Vorgesetzter. Sie tun genau das, was ich Ihnen befehle.«
Er sagt tatsächlich befehlen , dachte Luise überrascht.
»Der Reichsinnenminister hat Kollekten für die Bekennende Kirche untersagt«, gab der Mesner laut und unverschämt zurück, in dieser hochgestochenen Redeweise, die kleine Leute oft haben, wenn sie sich hinter einer Autorität verstecken. »Wenn Sie die Kollekte einsammeln, machen Sie sich strafbar. Wieder einmal.«
»Herr Schwarz«, erwiderte ihr Vater jetzt lauter, »kein Amt auf dieser Welt und auch nicht der Reichsinnenminister wird der christlichen Kirche vorschreiben, für welche Bedürftigen sie Geld sammelt. Und so geht es überhaupt mit Ihnen nicht weiter. Sie läuten unerlaubt die Kirchenglocken zu Parteifeiertagen und …«
»Führergeburtstag! Führergeburtstag!«, unterbrach ihn der Mesner nun auch immer erregter, »da habe ich geläutet, weil Sie sich geweigert haben!«
»Ich kann gerne nachsehen«, sagte ihr Vater jetzt wirklich laut, »aber meines Wissens ist der Führergeburtstag nicht als christlicher Feiertag im Kirchenkalender verzeichnet. Ihre Eigenmächtigkeiten stehen mir bis hier!«
Luise hätte gelächelt, wenn sie nicht so besorgt gewesen wäre. Sie kannte die Geste genau, die ihr Vater immer machte, wenn er so etwas sagte. Scharf und mit erhobener Stimme fuhr er fort: »Sie werden die Glocken dann läuten, wenn ich das anordne. Sie werden sich keine weiteren Alleingänge in meiner Liturgie mehr erlauben, und Sie werden heute genau die Kollekte einsammeln, die ich ankündige. Sonst werde ich dafür sorgen, dass wir einen neuen Kirchendiener finden.«
Es gab eine kurze Pause. Luise sah, wie der Mesner ihren für sie unsichtbaren Vater hasserfüllt anstarrte.
»Der Reichsinnenminister hat …«, begann er mit dünner, scharfer Stimme, aber ihr Vater unterbrach ihn nun wirklich in höchster Wut.
»Der Reichsinnenminister und Sie können mich mal am Arsch lecken!«, schrie er, »verschwinden Sie aus meiner Kirche!«
Luise holte scharf und tief Luft. Der Mesner war bleich, aber dann verzog er die Lippen zu einem hässlichen Lächeln.
»Das wird Folgen haben. Folgen.«
»Gehen Sie!«, sagte Luises Vater nun wieder beherrscht, aber man hörte seiner Stimme das Zittern der unterdrückten Wut noch an. Der Mesner drehte sich um und verschwand. Luise wollte zu ihrem Vater, aber der hatte sich in die Sakristei zurückgezogen und die Tür hinter sich geschlossen, bevor sie ihn erreichen konnte, und die Tür ließ sich nicht von außen öffnen. Dann hörte sie auch schon die Glocken. Ihr Vater musste sie wohl selbst läuten. Sie war durcheinander. Doch dann reckte sie sich und sah über die Mauer auf die Gasse. Der Mesner lief dort, sonst war niemand zu sehen. Es hatte keine Zeugen gegeben. Luise atmete auf. Das zumindest! Aber dann kam der Ärger über Papa hoch. Wieso ließ er sich so provozieren? Er wusste doch, wie gefährlich es war. Sie konnte nur hoffen, dass er sich wieder in der Gewalt hatte. Eilig ging sie nun ganz um die Kirche herum und hinein.
Wie sie erwartet hatte, waren die Bänke heute nur locker besetzt. Das Orgelvorspiel setzte ein, als sie noch durch den Gang schritt, um sich heute ausnahmsweise weiter nach vorn zu setzen. Sie wollte, dass Papa sie sah, nicht zuletzt, damit er nichts Unüberlegtes mehr tat.
» Geh aus, mein Herz und suche Freud … «
Die Gemeinde hatte angefangen zu singen, und Luise stimmte ein, sobald sie saß. Einmal, weil es sie beruhigte, zum anderen, weil sie das Lied schon immer gemocht hatte. Es war eigentlich ein Lied zum Fliegen. Schon als Kind hatte sie, wenn dieses Lied im Religionsunterricht
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