Ein Lied über der Stadt
und sah auf den Schein, der vor ihm lag. »KL Dachau«, sagte er dann.
»Dachau?«, rief Luise entsetzt, und Paul fragte: »Was wird ihm denn vorgeworfen? Wieso denn Dachau?«
»Schutzhaft«, antwortete der Polizist kurz und sah dann doch auf: »Es ist ja nicht so, dass er nicht gewarnt wurde.«
Luise sah den Polizisten an und hielt seinen Blick fest. »Wie lange? Für wie lange?«
Der Polizist hob beide Hände und wies auf das Papier. »Glauben Sie, die Gestapo sagt uns Stadtpolizisten, was sie mit ihren Häftlingen macht? Das geht uns doch nichts mehr an. Wenden Sie sich an die Kommandantur in Dachau. Aber ich sage Ihnen gleich: Jede Anfrage kostet Ihren Vater einen Tag mehr.«
Paul gab Luise ein Zeichen, dass sie gehen sollten. »Wir nehmen einen Anwalt«, sagte er halblaut zu ihr.
Sie nickte. Der Polizist war bereits aufgestanden und heftete den Schein wieder in die schmale Akte, auf der Luise den Namen Anding zu entziffern glaubte. Akte Anding, dachte sie, das war Papa jetzt.
Noch während sie durch den Flur der Wache nach draußen gingen, sagte sie zu Paul: »Wir müssen nach Dachau fahren.«
»Es wird nichts nützen«, sagte Paul im Gehen.
»Paul!«, rief Luise unterdrückt. »Du kannst das doch nicht einfach so hinnehmen. Papa ist im KZ. Sie haben ihn einfach ins Konzentrationslager. Wie … was sollen wir … willst du einfach hier sitzen und nichts machen?«
Sie war ungerecht, das wusste sie, aber sie war wütend und verzweifelt, und irgendetwas musste man doch tun können!
Sie betraten die Stufen hinunter zur Straße. Der Nachmittag war schön. Ein Lastauto fuhr vorbei. Die leeren Bierfässer auf der Ladefläche rumpelten gegeneinander, und zwei Kinder auf Tretrollern stoben hinter ihm her. Eine Fahrradglocke klang hell. Alltag.
Paul war stehen geblieben und sah sie an.
»Du hast ihn gehört«, sagte er bitter, »jede Anfrage kostet ihn einen Tag mehr. Meinst du, sie lassen ihn frei, wenn du nach Dachau ans Tor fährst und schön bitte, bitte sagst? Meinst du, sie lassen dich bis zum Kommandanten vor? Wir sind wirklich nicht die Ersten, denen so was passiert. Manchmal fragt man sich, wieso sie ihn erst jetzt verhaftet haben.«
»Was?« Luise schrie es fast. »Wie kannst du so etwas sagen? Wie? Es ist doch Papa!«
Paul ging die Treppen hinunter.
»Warum hat er bloß nicht schweigen können?«, fragte er Luise bitter. »Warum nicht? Es hat doch sowieso keinen Sinn! Sie sind immer stärker! Und jetzt? Schau dich doch um!«
Er wies auf die Straße. Alles war wie immer. Nur die Hakenkreuzbeflaggung an den Häusern erinnerte daran, dass dies nicht mehr die Stadt war, in der sie aufgewachsen waren.
»Das interessiert hier niemanden.«
Er ging sehr schnell. Luise blieb an seiner Seite.
»Außer denen, die ihn denunziert haben«, sagte sie böse.
»Ja«, antwortete Paul nun fast tonlos, »außer denen. Wir müssen uns einen Anwalt nehmen.«
Sie überquerten schweigend den Marktplatz, passierten den Schreibwarenladen und das Pferdetor und gingen dann am Brunnen vorbei in Richtung Pfarrhaus. Im Café am Brunnen saßen ein paar Leute vor ihrem Eisbecher und ihrem Kännchen Mokka und schauten ihnen müßig nach, wie sie den Enten am Brunnenrand nachsehen mochten.
»Es wird nichts nützen?«, fragte Luise, als sie an der Gartenmauer entlang zum Haus gingen.
Paul schüttelte den Kopf.
Von der Kirchturmuhr schlug es vier Uhr. Luise blieb vor dem Haustor stehen, das Paul noch einen Moment lang offen hielt, aber dann schüttelte sie stumm den Kopf. Irgendwie konnte sie den Gedanken nicht ertragen, jetzt einfach heimzukommen wie von einer Besorgung. Sie holte sich wortlos einen Spaten aus dem Schuppen, um den General zu begraben.
15
Es waren seltsam hohle Tage, die auf die Festnahme folgten. Sie drehten sich um ihren Vater, der nicht da war, wie ein Karussell um eine leere Mitte. Jeden Morgen wachte sie mit der Hoffnung auf, er käme heute vielleicht nach Hause, und jeden Abend ging sie mit wachsender Resignation zu Bett. Paul war noch schweigsamer als früher und blieb oft länger im Büro, als er wohl musste. Man sah Luana an, wie unglücklich sie das wiederum machte. Sie gab sich große Mühe, das Leben im Haus so angenehm wie möglich zu gestalten, schmückte noch immer den Tisch mit Blumen, kochte wie zum Trost besonders gut, aber die gemeinsamen Mahlzeiten verliefen wortkarg und schwer.
An den Sonntagen nahm nun immer der Pfarrer aus Oberhochstatt, einem kleinen Ort auf der Jurahöhe einige
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