Ein Lord mit besten Absichten
gelebt… und er ist so ein schöner Mann. Tragisch. Immer in Schwarz, wie du siehst … trotzdem, Mord! Nein, wirklich! Und der Duke of Sunderland hat ihn geschnitten, erzählen alle. Heute Abend erst! Seinen eigenen Cousin! Er ist ganz und gar keine gute Gesellschaft, auch nicht mit achtzigtausend Pfund im Jahr.«
Es bedurfte schon einer raschen Auffassungsgabe, den gewundenen Gedankengängen ihrer Tante zu folgen, aber Gillian hatte den Dreh bald herausgehabt. Wenn man nicht zu genau hinhörte und die Aufmerksamkeit leicht abschweifen ließ, war es möglich, dem Gesagten genügend brauchbare Informationen für die passende Antwort zu entnehmen.
»Du meinst, ich hätte nicht mit ihm tanzen sollen, weil erzählt wird, er hätte seine Frau umgebracht? Es überrascht mich, Tante, dass du so etwas Lächerliches und eindeutig Unwahres glaubst. Man muss nur etwas Zeit in der Gegenwart des Earls verbringen, dann merkt man schnell, dass er unschuldig ist. Von allen geschmähten Männern meines Bekanntenkreises hat er wohl am meisten unter den Anfeindungen jener Leute zu leiden, die ihm lieber zur Seite stehen und Unterstützung und Beistand bieten sollten, anstatt ihn schlechtzumachen und seinen Ruf zu ruinieren. Die Gesellschaft sollte sich schämen, ihn so schändlich zu behandeln! Ich dulde derart gemeine Lügen und grausame Unterstellungen nicht, wie sie diese sogenannte feine Gesellschaft zu entzücken scheinen. Und ich muss sagen, liebe Tante, ich bin entsetzt, dass du diesen offenkundigen Unwahrheiten Glauben schenkst. Ich kann nur hoffen, dass du diese gemeinen und verwerflichen Anschuldigungen nicht auch noch weiterverbreitest! Vielmehr hoffe ich, dass du diesen armen, einsamen und gebeutelten Mann dabei unterstützt, seinen hervorragenden Ruf wiederherzustellen. Ein Ruf, der durch den unerwarteten Tod seiner von ihm zweifellos über alles geliebten Gattin besudelt wurde! Ich weiß, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um ihm zu helfen!«
Lady Collins sank unter der scharfen Attacke ihrer Nichte in sich zusammen. Sofort wurde Gillian von heftigen Schuldgefühlen befallen, dass sie die Stimme gegen ihre Tante erhoben hatte. Es schien, als hätte der halbe Ballsaal zugehört und wartete nun mit angehaltenem Atem auf die Fortsetzung ihrer Tirade. Erleichtert, dass der Schwarze Earl nicht zugegen gewesen und Zeuge ihrer wenig damenhaften Vorstellung geworden war, huschte ein verlegenes Lächeln über Gillians Gesicht, ehe sie sich ihrer Tante wieder zuwandte.
»Ist das nicht ein bezaubernder Abend?«, fragte sie so laut, dass die Umstehenden es auch alle hören konnten. »Und das Wetter – wahrlich, was haben wir doch für schönes Wetter diesen Juni. So angenehm warm, meinst du nicht auch, liebe Tante?«
»Warm, ja, es ist warm. Der Flieder und die Lilien … Spaziergänge im Garten und Picknick am Fluss … Oxford, weißt du … ach, da ist ja Ihre Hoheit. Ich werde ihr meine Auf… ja.«
Als Lady Collins die Flucht ergriff, riss Charlotte sich von der Schar ihrer Verehrer los und eilte zu ihrer Cousine, um mit ihr zu reden. Sie legte die zierliche Hand auf den Arm ihrer Cousine und ließ über ihren Spitzenfächer hinweg ein von Grübchen geziertes Lächeln aufblitzen, als ein Bewunderer vorüberging, und zog Gillian dann mit einem Griff, der einen Schauermann stolz gemacht hätte, zu einem diskreten Plätzchen zwischen zwei großen Topfpalmen.
»Was um alles in der Welt hast du dir dabei gedacht, Gilly?«
Gillians Magen fühlte sich an wie mit Bleischrot gefüllt. Sie hatte sich unsäglich grob gegenüber ihrer Tante benommen und keine Entschuldigung für ihr Verhalten. Daher hegte sie nicht die geringsten Zweifel, dass ihre Cousine sie heftig zurechtweisen würde, wobei sie jedes scharfe Wort verdient hätte. »Es tut mir leid, Charlotte. Ich hatte kein Recht, so mit deiner Mutter zu reden …«
Charlotte starrte sie kurz an, schnitt eine Grimasse und schob die Entschuldigung beiseite. »Ach, vergiss es. Mich treibt Mama auch immer in den Wahnsinn. Aber warum hast du den Earl entwischen lassen? Als Nächstes kommt die
Anglaise
, und hättest du durchblicken lassen, dass du frei bist, hätte er dich vielleicht noch einmal zum Tanz aufgefordert. Und bis dahin hättest du ihn mit heiteren Anekdoten und geistreichen Antworten an deiner Seite halten müssen.«
»Was für heitere Anekdoten und geistreiche Antworten hätten das wohl sein sollen?«
Charlotte winkte geistesabwesend und
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