Ein Lord mit besten Absichten
nicht geschieht, wenn du weiterhin so … so …«
»… ehrlich bist?«
»Nein.«
»Offen?«
»Nein.«
Gillian kaute für einen kurzen Moment auf ihrer Unterlippe. »Bescheiden? Unprätentiös? Aufrichtig?«
»Nein, nein, nein. Grün, das ist es. Durch und durch blauäugig und ohne den geringsten Sinn für angemessenes Benehmen in der feinen Gesellschaft. Du musst unbedingt damit aufhören zu sagen, was du denkst. So etwas ziemt sich nicht in vornehmen Kreisen.«
»Es gibt Leute, denen Ehrlichkeit gefällt.«
»Aber niemandem in diesen erlauchten Kreisen. Und jetzt hör auf, Zeit zu verschwenden, und mach ein freundliches Gesicht.«
Gillian seufzte leise und versuchte, die Maske der Sittsamkeit aufzusetzen, die man bei unverheirateten Frauen ihres Alters erwartete.
»Jetzt siehst du stur aus«, erklärte Charlotte mit einem Stirnrunzeln, ehe sie plötzlich schelmisch grinste. Sie hakte ihre Cousine unter und zog sie durch den Flur. »Wie dem auch sei, deine Miene ist völlig unwichtig. Komm, wir wollen Lord Weston doch nicht verpassen. Mama sagt, er sei ein verabscheuungswürdiger Lebemann und in vornehmen Kreisen nicht mehr gern gesehen. Ich bin gespannt, ob er auch so verderbt aussieht.«
»Was hat er denn verbrochen, dass ihn die Xanthippen, Schurken und Schufte, die sich in diesen Kreisen herumtreiben, nicht mehr in ihren Reihen haben wollen?«
Charlottes Augen sprühten vor Aufregung. »Lady Dell sagt, er hätte seine Frau ermordet, als er sie in den Armen ihres Liebhabers überraschte. Er wollte den Mann erschießen, verfehlte diesen aber und traf stattdessen sie.«
»Wirklich? Wie spannend! Er muss ein furchtbar emotionaler und unbeherrschter Mann sein, wenn er seiner Frau nicht einmal einen Liebhaber zugesteht. Ich dachte, solch ein Betragen wäre in euren Kreisen geradezu ein Muss.«
Gillian und Charlotte schlängelten sich an Grüppchen elegant gekleideter Menschen vorbei und blieben vor der Doppeltür zum Ballsaal stehen. Die Luft in dem Raum war stickig und zum Schneiden dick.
Charlotte fächelte sich energisch Kühlung zu, während sie sich wieder daranmachte, Gillian alles zu berichten, was sie über diesen verabscheuungswürdigen Earl wusste. »Er ist immer in Schwarz gekleidet – man wertet es als Zeichen seiner Schuld, dass er noch immer Trauer trägt, obwohl es doch schon fünf Jahre her ist, dass er seine Frau umgebracht hat. Sie soll ihn verflucht haben. Und dann sind da noch die Gerüchte über ein Kind …«
Charlotte senkte die Stimme zu einem vertraulichen Flüstern, sodass Gillian ihre liebe Not hatte, sie trotz des Geschnatters in der Nähe stehender älterer Damen zu verstehen.
»… und wurde außerehelich geboren.«
»Wer ist ein Bastard?«, fragte Gillian verwirrt.
»Gillian!«, schrie Charlotte auf und zog ihre Cousine dichter zur Tür des Ballsaals. »Um Himmels willen, du bist so zivilisiert wie ein Indianer. Deine unkonventionelle Art rührt bestimmt daher, dass du unter ihnen gelebt hast. Versuch bitte, deine Zunge zu hüten!«
Gillian murmelte eine unaufrichtige Entschuldigung und stieß ihre Cousine an. »Wer ist unehelich? Der Earl?«
»Also wirklich, Gilly! Was redest du für einen Unsinn! Wie kann er unehelich und ein Earl sein? Hör mir doch besser zu und … Ich habe gerade versucht, dir zu erzählen, wie Lord Weston seine erste Frau ermordet hat, weil sie ihm keinen Sohn schenken wollte und Trost bei ihrem Liebhaber suchte. Ist das nicht spannend? Sie soll ihn um die Scheidung angefleht haben, damit sie ihre wahre Liebe heiraten kann, doch er soll nur geantwortet haben, wenn er sie schon nicht haben könnte, dann aber auch kein anderer. Und dann hat er sie vor den Augen ihres Geliebten erschossen.« Sie seufzte. »Das ist so romantisch.«
»Was Romantik betrifft, gehen unsere Vorstellungen eindeutig auseinander«, sagte Gillian, während sie den Blick schweifen ließ … über die Stutzer, Modenarren und Gecken, über die betagten Herren in seidenen Hosen und die anderen ausersehenen Mitglieder dieses kleinen erlesenen Kreises, der über die richtige Mischung aus Reichtum, Rang und Ansehen verfügte, um sich zur Crème de la Crème der Londoner Gesellschaft zählen zu dürfen. »Und dieser Mann ist heute Abend hier? Wo? Sieht er abstoßend aus? Hat er einen Buckel? Schielt und hinkt er? Hat er vor, den Damen schöne Augen zu machen?«
Charlotte zog die Brauen zusammen. »Sei nicht albern, Gilly. Der Earl ist kein Monster; zumindest nicht, was
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