Ein Lord zu Tulivar (German Edition)
Mensch.
Es sah alles nach einem hastigen Aufbruch aus, aber keinesfalls ohne Vorbereitungen. Die Kammern waren leer, es gab kaum Speisereste. Der nahe gelegene Stall war ebenfalls bar aller Tiere, von herumstreunenden Katzen und Hunden einmal abgesehen.
Als die anderen Männer zurückkamen und Bericht erstatteten, verdichtete sich unser erster Eindruck.
»Es gibt hier keine Menschenseele mehr«, meinte Hafur. »Sie sind alle rasch aufgebrochen, aber nicht in Panik – es fehlen Tiere, Wagen, Nahrung, in einigen Häusern wurden offenbar auch Werkzeuge mitgenommen, Ersatzkleidung und derlei. Dafür wurde viel Wertvolles und Nützliches zurückgelassen, was darauf schließen lässt, dass es nicht sehr viel Zeit für eine mögliche Auswahl gegeben hat.«
»Wie lange ist das her?«, bat ich um Schätzungen.
»Auf den Brotresten gibt es Schimmel. Es liegt einiges an Staub herum. Aber die Häuser sind generell in gutem Zustand, es gibt weder Verrottung noch andere Schäden. In einem Stall fand ich tote Hühner, die hatte man wohl vergessen freizulassen. Sie sind noch nicht völlig verwest«, fasste ein anderer meiner Männer namens Tolb zusammen. Er runzelte die Stirn, um die Konsequenz aus seiner Aufzählung zu ziehen, und fügte dann hinzu: »Ich schätze, dass die Bewohner nicht viel länger als eine Woche fort sind. Maximal zwei. Länger nicht.«
Ich blickte fragend in die Runde. Allgemeines Kopfnicken. Auch Woldan und ich schlossen uns Tolbs Schätzung an.
»Wir müssen herausfinden, was passiert ist«, befahl ich. »Wir trennen uns erneut in Zweiergruppen. Dringt in Häuser ein, aber möglichst, ohne etwas zu beschädigen. Sucht nach Aufzeichnungen. Vielleicht hat jemand eine Notiz für einen Verwandten hinterlassen, eine Warnung?! Achtet auf Spuren von Kämpfen, mutwilligen Zerstörungen. Ich möchte, dass ihr so gründlich seid, wie es nur geht. Wir treffen uns heute Abend wieder hier auf dem Marktplatz, vor Sonnenuntergang. Dann beschließen wir unser weiteres Vorgehen. Woldan, du gehst mit mir.«
Es gab keine Fragen, und so verteilten wir uns in der Stadt. Woldan und ich betraten das Gebäude des Dorfschulzen, und getreu meinen eigenen Anweisungen begannen wir, nach Aufzeichnungen oder anderen Hinweisen zu suchen. Der Dorfschulze von Felsdom war Analphabet, so viel wussten wir, aber vielleicht hatte er ja jemanden gehabt, der ihm beim Führen des Registers, vor allem beim Erstellen der Geburtsurkunden geholfen hatte. Da das Register offenbar bis vor Kurzem aktualisiert wurde, nahm ich an, dass er einen Schreiber gehabt hatte, womit auch immer dieser bezahlt worden war.
»Die Stadtkasse ist leer«, sagte Woldan, als ich ihm auf dem Flur begegnete. »Und es war definitiv vorher etwas drin, sie ist nicht völlig verstaubt und unbenutzt gewesen. Unten im Keller fehlt eine Reisetruhe, das ist an den Dreckrändern auf dem Boden deutlich zu erkennen.«
»Ich war in der Küche«, informierte ich ihn. »Die haltbaren Vorräte sind fort: Gepökeltes Fleisch, Räucherware, eingelegtes Gemüse, nichts mehr da. Mehl ist auch keines vorhanden, obgleich ich Mehlspuren im Vorratsraum gefunden habe. Es fehlen einige Kochutensilien, ein paar Teller und Becher.«
Woldan nickte. Wir setzten unsere Suche fort. Es dauerte etwa zwanzig Minuten, dann rief mich Woldan zu sich. Während ich mir die Privatgemächer des Schulzen angesehen hatte, der offenbar in diesem Gebäude auch gewohnt hatte, war Woldan im Arbeits- und Empfangszimmer tätig geworden. Dort traf ich ihn auch an. Er stand vor dem breiten Tisch, der den Sessel des Dorfschulzen vor eventuellen Bittstellern trennte, und wies auf die schwere Tischplatte. Ich stellte mich neben ihn. Mitten im glatt polierten Holz steckte ein Messer, gut einen Zentimeter tief in das harte Material getrieben.
Ich runzelte die Stirn. Die Klinge war breit und beidseitig geschliffen, bestand zweifelsohne aus gutem Eisen, ordentlich geschmiedet, keine krude Arbeit eines Amateurs. Am Griff des Messers gab es Kerbereien, und es hing eine Art Talisman an einem kurzen Stück Seil daran. Woldan zögerte nicht länger und zog die Klinge aus dem Holz, was etwas Kraftanstrengung erforderte. Er wog sie in der Hand.
»Gut ausbalanciert, aber ich finde, etwas zu schwer zum Werfen.«
Ich nahm ihm die Waffe ab.
»Das ist kein Messer zum Kämpfen, zumindest nicht vor allem«, sagte ich dann. »Es ist eine zeremonielle Waffe. Die Kerbereien sind mir unbekannt. Es scheint eine Art Schrift zu sein. Der
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