Ein Lord zu Tulivar (German Edition)
in Tulivar wurden ihre Behausungen gerade durch marodierende Banden von allem befreit, was auch nur andeutungsweise Wert hatte. Zweifelsohne waren diese Beutezüge für beide Seiten frustrierend: für die Bewohner der Stadt, weil sie von ärmlich zu erbarmungswürdig arm wurden, und für die Gebirgskrieger, weil es schlicht nicht viel zu holen gab. Angesichts des geringen Lösegeldes, das man für mich verlangt hatte, ging ich jedoch davon aus, dass unsere Gegner nur bescheidene Vorstellungen von Wohlstand hatten.
»Eines verstehe ich nicht«, murmelte ich zu Woldan, während meine Kameraden sich lautstark über unwichtige Dinge austauschten. »Wenn das Ganze ein mieser Plan ist, mich auszuschalten, warum dann die Lösegeldforderung? Es wäre doch viel einfacher gewesen, den Hetman dafür zu entlohnen, mich bei Gelegenheit gleich umzubringen.«
Woldan nickte. »Es gibt dafür mehrere Erklärungen.«
»Eine ist, dass der Hetman sich schlicht geweigert hat, weil er kein Büttel des Imperiums und seiner Interessen sein will. Er ist nicht sonderlich schlau, aber ich bin mir sicher, er hat seinen Stolz«, mutmaßte ich.
Woldan wog den Kopf hin und her. »Das würden seine Auftraggeber nicht mitmachen, wenn sie dich wirklich aus dem Weg haben wollen. Die Summe muss doch nur hoch genug sein, dann wird auch ein stolzer Bergkrieger schwach. Ich glaube eher, dass niemand so genau wusste, wie viel Gold wir auf unseren Wagen mit uns geführt haben, und dass damit gerechnet wurde, dass niemand zahlen kann und wir getötet werden.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das ist mir zu kompliziert. Ein kluger Verschwörer muss sowohl einkalkulieren, dass wir genug Geld haben, wie auch, dass beispielsweise der Graf zu Bell bereit wäre, für das Lösegeld in Vorleistung zu treten. Außerdem musste man annehmen, dass jemand wie Selur eher versuchen würde, mich zu befreien. Nein, ich glaube, das Lösegeld ist nur ein Vorwand, um Zeit zu gewinnen.«
»Zeit wofür?«
»Mich von Tulivar fernzuhalten. Selur und seine Männer von dort fortzulocken.«
Woldans Gesicht umwölkte sich. »Also wollen sie eigentlich Tulivar angreifen – was de facto dazu führen würde, dass wir unsere Operationsbasis verlieren.«
Ich nickte nachdenklich. »So würde ich es machen. Was interessiert mich das Leid der normalen Bevölkerung? Ich will Kaitan loswerden, also nehme ich ihm die Basis dessen, woraus sich einmal sein Einfluss ergeben könnte: die Baronie. Und damit es möglichst einfach und schnell geht, stelle ich ihm eine Falle, halte ihn fest, warte, bis alles vorbei ist, und entsorge ihn dann. Oder ich lasse ihn laufen, damit er mit eingezogenem Schwanz zurück zum imperialen Hof rennt oder ganz untertaucht, als gescheiterte Existenz. Derweil sorgt man bei Hofe dafür, dass sogleich ein neuer, genehmer Baron installiert oder das ganze Gebiet wieder dem Grafen zu Bell zugeschlagen wird.«
»Glaubst du, er macht bei einer solchen Verschwörung mit?«
Ich zuckte mit den Achseln und sagte nichts.
Wir unterhielten uns noch eine Weile über das Thema, doch je mehr wir spekulierten, desto mehr drehten wir uns auch im Kreis. Ich wurde des Redens müde. Ich musste hier raus. Irgendwann legte ich mich an die Felswand und versuchte, etwas Schlaf zu finden. Ich hatte im Verlauf der Feldzüge der letzten Jahre zwei Dinge gelernt: überall zu schlafen, und das in fast jeder Position, und sofort hellwach zu sein, wenn sich etwas Außergewöhnliches ereignete. Es war bemerkenswert, dass mein guter Freund Woldan diesen Instinkt, der vielen Veteranen zu eigen war, nie entwickelt hatte. Schlief er einmal, dann so tief und fest, dass man Maßnahmen ergreifen musste, um ihn wach zu bekommen. Und hatte er keine geeignete Unterlage, fand er nur selten schnell Ruhe. Wir hatten bereits unsere Umhänge zusammengelegt, damit der Gute schlafen konnte. Es war ihm ein wenig peinlich, und das war auch völlig in Ordnung so.
Ich versank fast unmittelbar in einen tiefen Schlaf.
Genauso unmittelbar erwachte ich, als mich jemand sanft an der Schulter berührte.
Ich öffnete die Augen und blickte ins Gesicht einer Frau, die den Zeigefinger vor den Mund hielt. Ich sagte nichts. Es war eine der gefangenen Bewohnerinnen von Felsdom, eine Frau mittleren Alters, mit nach hinten gebundenen, braunen Haaren und einem wettergegerbten Gesicht. Sie beugte sich an mein Ohr.
»Die Wachen passen nachts nicht sonderlich gut auf. Mein Name ist Delia.«
»Ich …«
»Ich weiß, wer Ihr seid,
Weitere Kostenlose Bücher