Ein Lord zu Tulivar (German Edition)
Rückweg sein. Außerdem konnten wir uns dort auch nicht besser verteidigen. Nein, für mich war die Sache klar: Wir mussten sofort einen nächtlichen Gewaltmarsch antreten, und zwar in Richtung Tulivar. Natürlich würde der Schamane unsere Position sofort ausmachen, sobald er sich darauf konzentrierte, aber mit etwas Glück würden wir den Vorsprung eine Weile halten können. Der große Vorteil für uns war die Tatsache, dass auch die Felskrieger nur die Pferde hatten, die wir ihnen überlassen mussten, und nicht ein Tier mehr. Das Nordgebirge war keinesfalls der Geburtsort machtvoller Reitervölker, dazu passte die Geografie einfach nicht besonders gut.
Außerdem würden wir nicht die Hauptstraße, wie ernst man diesen Begriff auch nehmen wollte, sondern abseitige Trampelpfade nehmen. Wenn alles klappte, konnten wir einen ganzen Tag Vorsprung herausschlagen, bevor der Hetman uns nachsetzte. Und dann blieb einfach nur die Frage, ob wir es vorher bis Tulivar schaffen konnten. Es hing vor allem von der Verfassung unserer Schützlinge ab, unseren nicht existenten Nahrungsvorräten und der Wasserversorgung. Auf dem Weg hierher hatten wir gemerkt, dass allerlei Kleingetier und verschiedene essbare Pflanzen zur Verfügung standen, die von erfahrenen Jägern und Sammlern ohne großen Aufwand auf dem Wege eingesammelt werden konnten. Wenn wir uns gut organisierten, wäre eine Mahlzeit am Tage für alle drin, und das musste genügen. Das Wasserproblem sollte sich durch die kleinen Bäche und Rinnsale lösen lassen, die den Norden Tulivars durchzogen, gespeist durch zahlreiche Quellen im Nordgebirge. Die Bürger Felsdoms sollten zumindest einige dieser Wasserläufe kennen.
Mein größtes Pfund aber war Estibar, der Läufer. War es Zufall oder göttliche Vorsehung, dass ich ihn mitgenommen hatte, aber Estibar hatte neben vielen anderen Qualitäten – zu denen gehörte, dass er kein Schwätzer war und man gut mit ihm reisen konnte – die Begabung, ein ausdauernder Läufer zu sein. Er war von drahtiger Gestalt, mit langen, schlanken Beinen, denen man die ständige Übung ansah, der sich Estibar bei jeder Gelegenheit unterwarf. Man sagte, er misstraue den Pferden, obgleich er ein guter Reiter war. Er wolle immer eine echte Alternative zur Hand haben, und die war er selbst.
Estibar würde als Erster fliehen. Er würde sich nicht weiter um uns kümmern, sondern direkt den Marsch in Richtung Tulivar aufnehmen. Von der Nahrung und dem Wasser des heutigen Tages hatte er den Löwenanteil bekommen. Er würde sich an den Sternen orientieren und war wie jeder meiner Männer in der Lage, vom Land zu leben. Außerdem brauchte er nicht viel. Trinken war ihm wichtiger als essen. Als ich ihn mit der Aufgabe betraut hatte, nach Tulivar zu laufen und Selur zu alarmieren, hatte er mit keinem Lid gezuckt. Er würde sicher kurz nach dem Boten ankommen, der meinen albernen Brief überbrachte, und mit etwas Glück war Selur dann bereits auf dem Weg, um uns rauszuhauen. Ich schlug als Treffpunkt die Wegkreuzung vor, auf halber Strecke nach Tulivar. Hoffentlich würden wir nur zwei Tage durchhalten müssen.
Das einzige Problem blieb die simple Tatsache, dass der Hetman über rund 100 Krieger und einen Schamanen verfügte, ich aber nicht mehr als 30 Männer aufbieten konnte. Die armen Gebirgsmannen waren uns hoffnungslos unterlegen. Ich kam mir angesichts dieses Verhältnisses etwas schäbig vor, aber so war es mir lieber, sonst würde sich noch einer meiner Leute verletzen.
Wir bemerkten, dass es Abend wurde, weil unsere Gastgeber uns einige Schüsseln Brei hinstellten, dazu eine große Holzkanne mit Wasser. Wir boten alles unauffällig Estibar an, der lediglich einige tiefe Schlucke Wasser nahm. »Wenn ich zu viel esse, wird mir beim Laufen schlecht«, meinte er erklärend. Er nahm eine Handvoll des festen und körnigen Breis aus einer Schüssel und stopfte ihn sich in die Hosentasche. Dieser würde schnell hart werden und Estibar konnte unterwegs einen Happen nehmen, ohne sich gleich auf Nahrungssuche begeben zu müssen. Später würde er ohnehin für Wasser pausieren müssen. Ich hatte großes Vertrauen in ihn.
Er war ein echter Überlebenskünstler.
Wenn es jemand schaffen würde, dann er.
Die Wachleute begannen mit ihrer nächtlichen Routine. Nach einem kursorischen Blick über die Gefangenen zogen sich zwei in die Ecke der Höhle zurück, in der unsere Waffen gelagert waren. Der Rest verzog sich plaudernd nach oben. Insgesamt waren
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