Ein Lord zu Tulivar (German Edition)
Baron. Keine Zeit. Es gibt einen Fluchtweg.«
Sie deutete gegen die Wand. Ich richtete mich leise auf, sah sie verständnislos an. »Ihr schlaft davor, Baron.«
Ich drehte mich, betrachtete die Felswand. Das Licht war schlecht, und ich konnte nichts entdecken, was die Behauptung Delias untermauerte.
»Ich sehe nichts.«
»Um die Ecke.«
Delia kroch die Wand entlang, dann verschwand sie plötzlich. Ich folgte ihr und bedeutete den Männern, die alle – bis auf Woldan – ebenfalls erwacht waren, die Wachleute im Blick zu behalten. Dann sah ich die enge Felsspalte, die hinter die Wand führte, vor der ich geschlafen hatte – und zu einem dunklen Gang, der von hier abzweigte.
»Führt nach oben, Herr«, flüsterte Delia.
»Wann?«
»Wenn wir alle fliehen, werden es die Wachen merken. Der Hetman kehrt übermorgen mit seinen restlichen Männern zurück.«
»Woher …?«
»Zwei von uns verstehen die Sprache der Gebirgsstämme. Wir haben die kommende Nacht. Erst wollten sich unsere Männer opfern, um die Flucht der Frauen und Kinder zu decken, aber wir haben uns dagegen entschieden.«
»Warum fliehen? Ihr werdet sicher freigelassen.«
Delia schüttelte den Kopf. »Sie nehmen Kinder als Sklaven.«
Ich schloss meinen Mund, nickte langsam.
»Es ist nicht das erste Mal«, erklärte Delia bitter. »Es wird aber immer schlimmer.«
»Wir werden den Rückzug decken«, erklärte ich bestimmt.
Delia lächelte schwach. »Darauf haben wir gehofft, Herr. Wir wissen, wo Eure Waffen sind.«
Sie drehte sich um und krabbelte zurück. Wieder vor der Felswand angekommen, wies sie auf eine schlecht ausgeleuchtete Ecke in der Nähe des Sessels, in dem der Hetman gesessen hatte.
»Da, in der Ecke. Dort lagern sie alles.«
Ich sah keinen Wachmann in der Nähe. Ich hörte aber ein Schnarchen. Zumindest einer schlief seine Wache.
»Wo sind die anderen Krieger?«
»Draußen vor dem Hauptzugang. Die Gebirgsleute mögen es nicht allzu sehr, in Höhlen zu steigen. Seltsam, wo es doch so viele Höhlen in den Bergen gibt. Sie sitzen draußen um ein Feuer und haben den Zugang verschlossen. Immer, wenn der Hetman verschwindet, werden sie leichtsinnig. Bisher aber hatten wir keine Waffen. Jetzt liegen Eure da herum. Ihr könnt am besten mit ihnen umgehen.«
Woldan alleine würde mit seinem Bogen den Gang verteidigen können, wenn wir den schweren Stuhl als Deckung vor den Zugang legten. Ich grinste zuversichtlich.
Delia sah mich auffordernd an.
Ich nickte ihr zu.
»Morgen Nacht also!«
Wir hörten, wie es draußen rumorte. Delia warf mir einen dankbaren Blick zu und huschte zu den Ihren hinüber. Kurze Zeit später wurde dort leise gezischelt. Die Neuigkeit machte schnell die Runde.
Ich sah mich um und sah weitere auffordernde Blicke, diesmal von meinen Männern. Ich grinste und wies auf Woldan.
»Weckt ihn. Wir müssen planen.«
* * *
Wir ließen uns den folgenden Tag über nichts anmerken. Die Wachmänner betrachteten uns mit der schläfrigen Aufmerksamkeit von Männern, die der Ansicht waren, dass sie die Sache im Griff hatten. Wir bekamen unser Essen – nichts, worauf ich im Einzelnen eingehen möchte – und ebenso wurden die Einwohner Felsdoms versorgt. Ansonsten beschränkte man sich darauf, gelegentlich unsere Fesseln zu prüfen und uns strafende Blicke zuzuwerfen. Wir versuchten, so wenig wie möglich aufzufallen. Je mehr wir die Krieger in Sicherheit wiegten, desto weniger Anstalten würden sie in der Nacht machen, uns besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Ich betrachtete die anwesenden Krieger genau. Wir versuchten, uns ein Bild von den Männern zu machen, denen wir in der kommenden Nacht entkommen und aller Wahrscheinlichkeit die Kehle durchschneiden würden.
Delia hatte uns noch mitteilen können, dass der Fluchtweg, eng und verwinkelt, absolut natürlichen Ursprungs sei. Durch ihn habe man die Höhle überhaupt entdeckt. Er mäanderte mehrere Hundert Meter durch das Gestein, um nahe einer vertrockneten Quelle ins Freie zu führen. Zwischen dem künstlich errichteten Zugang und diesem Tunnel lagen zwei Hügel, und es sollte bei geeigneter Vorsicht möglich sein, in der Nacht zu verschwinden.
Worüber ich mir am meisten Gedanken machte, war aber die Frage, wohin es danach gehen würde. Ich schloss aus, in Richtung Felsdom zu fliehen, obgleich das möglicherweise dem ersten Impuls meiner geneigten Untertanen entsprechen würde. Doch aus der Richtung würden die Plünderer bereits auf dem
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