Ein Macho auf Abwegen
keineswegs anmerken, dass sie genau wusste, welche Veranlassung ihr Gast
wirklich hatte. Keine dieser, im wahrsten Sinne des Wortes, niedergeschlagenen
Erscheinungen rückte freiwillig und schon gar nicht beim ersten Kontakt zu
unbekannten Menschen mit ihrer persönlichen und demütigenden Horrorgeschichte
heraus. So etwas brauchte Zeit für Vertrauen.
Nachdem sie den Kaffee getrunken hatten, erhob Hilde Clemens
sich. „Möchten Sie sich das Haus ansehen?“ Christina sprang munter auf. Es sah
so aus, als hätte sie die erste Hürde geschafft. „Oh, ja! Herzlich gerne!“
Die Heimleiterin erklärte ihr die momentane Situation,
während sie einen Rundgang durch die Villa machten. „Es fehlt uns vorne und
hinten an Geld. Wir sind ständig überbelegt. Normalerweise müssten wir Etliche,
die vor unserer Tür stehen, wieder wegschicken, aber das fällt mir persönlich
sehr schwer. Wenn alle ein wenig zusammenrücken, geht es jedoch immer,...
irgendwie!“
Es gab in jeder der zwei Etagen eine große Wohnküche und ein
Gemeinschaftswohnzimmer. In den restlichen Räumen waren bis zu acht Personen,
Frauen und Kinder gemeinsam, auf einmal untergebracht. Die Zimmer waren einfach
und zweckmäßig ausgestattet, dennoch war alles sehr sauber und ordentlich. „Auf
Sauberkeit und Ordnung lege ich sehr großen Wert! Das alles bedeutet Disziplin,
und viele der Frauen müssen erst einmal lernen, morgens wieder regelmäßig
aufzustehen, ihre Kinder zu versorgen und einen Tagesplan einzuhalten. Viel
Bewohnerrinnen hatten oft nur noch ein Lebensziel, nämlich irgendwie
durchzuhalten oder sogar nur dafür zu sorgen, dass ihre Kinder und sie selber
den nächsten Tag erlebten.“
Wem sagst du das?, rief Christina in Gedanken. „Und wir
helfen ihnen dabei, den ganz normalen Alltag zu bewältigen.“
Christina war tief beeindruckt. Sie sah Frauen und kleine
Kinder mit blauen Flecken, angeschwollenen Gesichtern und anderen Verletzungen.
Das Erschreckendste waren jedenfalls die bekümmerten und gebrochen wirkenden
Blicke der Heimbewohnerrinnen. Ihr lief es kalt den Rücken herunter. Genauso
hatte sie sich früher selber jeden Tag im Spiegel angeschaut.
„Wie könnte ich Ihnen denn zur Hand gehen, Frau Clemens? Ich
meine natürlich, wenn Sie mich lassen“, fragte sie nach. „Die Frauen brauchen
Hilfe bei der Wohnungssuche, bei Behördengängen oder beim Formulare ausfüllen.
Sie brauchen aber vor allen Dingen ein Gefühl der Sicherheit, Geborgenheit und
gute Gespräche. Eine komplett neue Lebensperspektive! Die Kinder müssen bei den
Hausaufgaben betreut werden oder wollen einfach nur in Ruhe spielen. Die
meisten Mütter kriegen selbst das nicht mehr hin!“, erläuterte ihr Frau
Clemens. „Sie meinen, die Frauen brauchen einfach nur jemanden, dem sie
vertrauen können und ein ganz gewöhnliches Leben?“ Die Heimleiterin lächelte
honorig. „Ja, genau! Man muss dafür nicht speziell ausgebildet sein. Man
braucht lediglich ein großes Herz. – Haben Sie ein großes Herz, Frau Klasen?“ Christina
sah Frau Clemens mit großen Augen an. Hilde Clemens sah so aus, als würde sie
Christinas Hilfsangebot nicht abschlagen. „Da passt so viel hinein, das können
Sie mir glauben!“
Sie gingen zurück in Frau Clemens’ Büro, um den Dienstplan
zu besprechen. Sie einigten sich darauf, dass Christina während der Woche
dreimal, je nach Hotelschicht, nach Feierabend und jedes freie Wochenende
ganztags arbeiten würde. „Ist das nicht ein bisschen zuviel für Sie?“, fragte
Frau Clemens fürsorglich nach. „Sie müssen doch auch ein wenig Zeit für sich
selber haben. Ihre Arbeit ist doch sicherlich sehr anstrengend, und Sie wollen
doch bestimmt auch einmal ausgehen.“
„Nein, nein, da machen Sie sich bitte keine Sorgen! Ich gehe
nicht aus. Ich möchte mich hier wirklich nützlich machen und viel Zeit im
Frauenhaus verbringen. Im Übrigen habe ich ja immer noch zwei Abende, an denen
ich etwas unternehmen könnte.“
Christina verabschiedete sich freudestrahlend von Frau
Clemens. „Also dann, bis morgen Nachmittag. Ich freue mich schon!“ Hilde
Clemens winkte ihr nach. „Ich mich auch, bis dann.“
Kaum im Hotel angekommen, machte sie sich daran, Briefe zu
schreiben. Einen an die Kinder und einen an Pili. Alle sollten Bescheid wissen,
wie zufrieden sie war, und wie gut sie es in Deutschland angetroffen hatte.
Sie wusste zwar, dass Manuel und Isabel ihren Brief wahrscheinlich niemals
öffnen, geschweige denn überhaupt lesen
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