Ein Macho auf Abwegen
Wenn sie sich verschrieb, löschte
sie das Falsche mit dem Tintenkiller und malte fein säuberlich darüber. Jede
kleine Zahl passte akkurat in die Kästchen. Nichts war drüber geschmiert, und
das Ergebnis jedes Rechenpäckchens wurde mit dem Lineal zweimal ordentlich
unterstrichen. Beim Diktat schrieb sie zwar sehr langsam, aber ihre Schrift war
so reinlich, dass man hätte denken können, die Buchstaben wären auf die Linien
gedruckt worden. Christina musste an die Kämpfe denken, die sie mit Manuel in
der frühen Schulzeit hatte. Der Junge hatte zu allem anderen Lust, nur nicht
auf Schule und erst recht nicht auf Hausaufgaben. Alles musste schnell gehen,
und Manuel kritzelte unleserlich in seine Hefte, ohne Rücksicht auf Verluste.
Hauptsache schnell! Hauptsache fertig! Hauptsache rausgehen, mit seinen
Freunden an den Strand oder Fußballspielen. Das war ihm wichtig gewesen, sonst
nichts.
Nicole tat ohne zu murren, was man von ihr verlangte.
Niemals war sie ungehorsam oder gar trotzig. Nicht ein einziges Mal tobte sie
mit den anderen Kindern im Spielzimmer oder auf dem kleinen Spielplatz im
Garten herum. Sie war meistens alleine und begnügte sich damit, den anderen
beim Spielen zu zuschauen. Sie schaukelte, wippte oder rutschte nur mit ihrer
Mutter oder Christina. Nicole hatte allezeit den gleichen Gesichtsausdruck. Sie
blickte immer sehr ernst daher, ohne jedes Mienenspiel. Sie konnte weder
weinen, noch war sie in der Lage zu lachen. „Mit viel Geduld wird Nicki es
eines Tages wieder tun!“, sagte Inge Fink zu Christina. „Sie wird nie
vergessen, was man ihr angetan hat, aber sie wird hoffentlich irgendwann
wissen, wer es wirklich gut mit ihr meint. Bleiben Sie dran, Christina!“
„Das werde ich auch! So schnell gebe ich nicht auf, das
können Sie mir glauben! Ich werde die Kleine zum Lachen und zum Weinen, zum
Toben und zum Schreien bringen. Ich schaffe das, Inge!“
Helle Aufregung im ganzen Verlag. Die Geschäftsleitung hatte
zur alljährlichen Betriebsfeier geladen. Das Ereignis des Jahres! Die
Kolleginnen des Schreibbüros hatten kein anderes Thema mehr. Was sollte man
bloß anziehen? Welche Frisuren wurden getragen? Alle, von der Putzfrau bis zum
Geschäftsführer, würden kommen. Natürlich waren auch sämtliche unter Vertrag
stehende Künstler eingeladen. Vom Popsternchen bis zum Superstar.
Gaby erschien an diesem Morgen schon ganz früh in Stevens
Vorzimmer. „Christina, gehen wir zusammen einkaufen? Ich muss unbedingt etwas
Neues für die Feier haben! Weißt du, ich will mir nämlich das schärfste Outfit
der Stadt zulegen.“ Christina konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Die
Kleine war einfach zu drollig! „Natürlich gehen wir zusammen, Gaby. Wie wäre es
mit heute Nachmittag? Um das schärfste der ganzen Stadt zu finden, müssen wir
ja wohl jedes Geschäft abklappern. Du sollst dir ja auch wirklich sicher sein,
alles gesehen zu haben. Das kann Tage dauern!“ Sie schenkte ihrer Freundin die
obligatorische Tasse Kaffee ein. „Jetzt trink’ erst mal deinen Kaffee!“
Stevens war bereits auf seinem Posten. Durch die offen
stehende Bürotür musste er zwangsläufig der Unterhaltung der beiden Frauen
nebenan zuhören.
Gaby rief euphorisch:
„Und Stevens? Kommt er ...?“ Christina stoppte
augenblicklich den lautstarken Ausbruch ihrer jugendlichen Freundin. „Psst!“,
zischte sie und machte ein Zeichen in Richtung Stevens Büro. Gaby setzte sich
zu ihr und versuchte ihre Lautstärke herunterzupegeln. „Wenn der dahin geht,
dann muss ich mir echt haargenau überlegen, was ich anziehe. Das muss alles
voll stimmen, Christina! Wann hat man schon die Gelegenheit, ihm so nah auf die
Pelle rücken zu können?“
Nebenan schmunzelte Marc leise vor sich hin. Ihm waren die
häufigen Besuche der hübschen Blonden aus dem Schreibbüro bei Frau Klasen
selbstverständlich schon aufgefallen.
Im Sekretariat der Stevens Production konnte Gaby sich
überhaupt nicht mehr beruhigen.
„Und du? Was ziehst du denn an, Christina?“
„Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt komme“, hörte Marc
seine Sekretärin antworten. „Ja, wie jetzt?!“, regte Gaby sich sofort auf.
„Warum denn nicht? Das darfst du dir doch nicht entgehen lassen! Was meinst du,
was da immer abgeht?“
Das finde ich aber auch, dachte Marc, legte die
Unterschriftenmappe zur Seite und lauschte nun ganz intensiv, was die beiden
Frauen nebenan sagten. „Du weißt doch, dass ich am Wochenende nie Zeit
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