Ein Mädchen aus Torusk
Krüppel zu bleiben.
Nur einmal deutete sie es an, als der Pfarrer zu ihr auf ihre Zimmerflucht kam und mit ihr die Hochzeitsfeier besprach.
»Ich habe ein Buch gelesen«, sagte sie beiläufig. »Ein schreckliches Buch, und ich möchte Ihre Ansicht hören, Herr Pastor. Da wird ein junger Mann geschildert, der in einer für ihn ausweglosen Situation Selbstmord begeht. Was hält die Kirche davon?«
»Nichts, Inken.« Der Pastor legte die Hände zusammen. »Selbstmord ist eine Flucht vor dem Leben. Es ist das Wegwerfen eines Gottesgeschenkes, denn das Leben ist ein Geschenk des Herrn. Es ist eine Beleidigung Gottes, sich davon zu trennen, so, als ob man eine alte Hose wegwirft oder ein zerrissenes Hemd. Keine Verzweiflung kann so groß sein, daß man sein Leben weggibt. Es geht im Leben immer weiter, und es kommen immer neue Möglichkeiten, an die man früher nie gedacht hat. Wer Hand an sich selbst legt, ist ein schwacher Mensch, ein Feigling. Er ist bis in die Seele hinein dumm. Es sei denn, er ist krank im Gemüt. Dann ist er ein armer Mensch, dem Gott verzeihen wird.«
»Danke, Herr Pastor«, sagte Inken Holgerson und schwieg darauf. So bin ich also allein, dachte sie. Ganz allein. Was heißt das: Es geht immer weiter. Wie kann es weitergehen, wenn man sich selbst nicht mehr sehen kann? Wenn man sein Spiegelbild haßt? Einmal kommt der Augenblick, wo man den Spiegel zerschlägt … und dann sich selbst. Und dann wird Ruhe sein. Unendliche Ruhe.
Kommt nicht die Ruhe auch von Gott?
*
Zehn Werst hinter Torusk fanden sie die ersten Tigerspuren. Mächtige Tatzen waren es, und Turganow, der erfahrene Jäger, kratzte sich das Eis von den Brauen und sagte zu allen: »Aufpassen, Genossen! Das ist ein gefährliches Pärchen! Wenn die Tiger so groß sind, wie ihre Tatzen anormal sind, dann werden wir Felle erbeuten, die ins Museum nach Jakutsk kommen. Seid vorsichtig, denn die Tiger sind tückisch und lauern uns auf. Bleibt immer in Rufweite voneinander, damit wir uns gegenseitig helfen können.«
So zogen sie durch den Urwald, auf Skiern, eine weit auseinandergezogene Schützenkette, fast wie im Krieg. So etwas kannten sie alle noch, denn sie waren, vor allem die Älteren unter ihnen, einmal alle Soldaten gewesen. Nur Nikolka Ippolitowitsch Litowka, der ›Rote‹, hatte seinen eigenen Kopf. Er wollte zeigen, welch ein Kerl er sei und daß Anuschka besser daran tat, ihn zu heiraten als diesen deutschen Plenny, der sich einbildete, das Schicksal nach seiner Mütze drehen zu können.
Also ging der ›Rote‹ abseits von den anderen, durchkämmte allein ein sumpfiges Gebiet und pfiff sich eins, denn er war fröhlich, daß er so mutig war. Außerdem hatte er ein Schnellfeuergewehr bei sich. Das gab ihm Sicherheit, denn einmal oder zweimal konnte man in der Aufregung danebenschießen, aber nicht zehnmal hintereinander.
Keiner weiß, wie später alles gekommen ist, denn es war ja keiner dabei. Plötzlich jedenfalls hämmerten abseits der Schützenlinie einige Feuerstöße durch den stillen Wald, dann – nach einer lähmenden Stille, denn alles blieb stehen und lauschte – vernahm man einen hellen Schrei und dann, undeutlich, verschwommen, das Doppelgebrüll des Tigerpaares.
»Jop twoje madj!« schrie Turganow und schlug sich an die Stirn. »Nikolka, das Rindvieh, hat sie aufgestöbert. Leute, beeilt euch! Wenn's nicht schon zu spät ist …«
Es war noch nicht zu spät, aber man kam zur rechten Zeit. Als die Torusker Jäger sich vorsichtig, aber schnell der Stelle näherten, aus der in kleinen Abständen immer wieder der Schrei: »Hierher! Hierher!« ertönte, sahen sie Nikolka Ippolitowitsch auf einem dicken Ast einer zerzausten Kiefer sitzen, und unter ihm, auf den Hintertatzen, den Stamm hinauffauchend, standen die beiden Tiger und versuchten, ihm nachzuklettern. Am Fuße des Stammes lag das Schnellfeuergewehr im zerstampften Schnee.
Der erste, der schoß, war Martin Abels. Sein Schuß traf den männlichen Tiger unterhalb des Kopfes in den Halswirbel. Mit einem dumpfen Schrei schnellte das riesige Tier herum, sah die Linie seiner Feinde, wollte vorwärtsspringen, aber seine Vorderläufe knickten gelähmt ein, und er rollte in den Schnee. Der nächste Schuß traf ihn genau ins rechte Auge. Er streckte sich und starb. Mit Abels zusammen schossen zehn andere Torusker auf die Tigerin. Ihr herrlicher, schwarzweiß-braun gestreifter Kopf wurde zu einem Sieb, aus dem das Blut und das Hirn herausstürzten. O Himmel,
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