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Ein Mädchen aus Torusk

Ein Mädchen aus Torusk

Titel: Ein Mädchen aus Torusk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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den weißen Bart, den er in den vergangenen Jahren resignierend vernachlässigt hatte.
    »Was sollen wir machen?« klagte Hauptmann Samsonow. »Ich habe ihm schon zehn Rubel Vorschuß gegeben.«
    »Herholen!« sagte Turganow wild. Er schüttelte die Fäuste, rannte in der Hütte herum, verfluchte den ›Roten‹, drohte ihm die schrecklichsten Rachetaten an und brüllte Olga, sein Weib, an, weil es heulte und jammerte und immer wieder rief: »Jetzt fliegt mein Vögelchen weg! Jetzt ist mein Leben zu Ende. Ich bin ein armes, elendes Mütterchen.«
    »Es bleibt uns nichts anderes übrig«, sagte Turganow zu Hauptmann Samsonow. »Nicht wegen der zehn Rubel Vorschuß, die könnte man sich noch teilen. Aber Anuschka soll als Frau mit Tinja in die Welt ziehen. Ordnung muß sein. Laß den Popen sofort kommen. Wir machen eine Hochzeit hier im Haus.«
    Ein Schlitten mit zwei der besten und schnellsten Rentiere davor holte den Popen aus Taragaisk. Er jammerte und klagte, denn er glaubte, man habe die heimliche Feier verraten und hole ihn jetzt zum Verhör des Kommissars. Erst als er Hauptmann Samsonow sah und ins Haus der Turganows geführt wurde, beruhigte er sich, ließ seinen vereisten weißen Bart auftauen, setzte sich an den Ofen, trank vier große Tassen Tee mit Schnaps, aß einen Teller Bohnensuppe und übte dann mit tiefer Stimme den Eröffnungschoral des Gottesdienstes. Es klang wie eine alte, rostige Orgel. Dennoch faltete Olga sofort die Hände über der Schürze und senkte das Haupt. Wie schön, dachte sie. Wie feierlich. O Gott, wenn die Welt doch anders aussähe und die Menschen nicht so grausam wären.
    Im Nebenzimmer, wo Anuschka das Brautkleid genäht hatte, war Pawel Andrejewitsch Turganow damit beschäftigt, seiner Tochter den Brautkranz und den Schleier auf das lange schwarze Haar zu stecken. Das ließ er sich nicht nehmen, obgleich es die Aufgabe der Mutter war, die Braut zu schmücken. Samsonow und der Pope bauten in einer Ecke des großen Raumes einen Altar auf – eine Ikone stellten sie auf einen Tisch, daneben zwei silberne Leuchter mit Kerzen. Olga Turganowa schmückte den Tisch mit getrockneten Blumen, dann legte sie einen Laib Brot daneben, ein tönernes Gefäß mit Salz und das abgeschnittene Ohr eines Fuchses, den Turganow bei der Rückkehr von der Tigerjagd in einer seiner Fanggruben gefunden hatte.
    Martin Abels saß auf der Ofenbank und starrte vor sich hin. Er trug schon die Reisekleidung: Fellhosen, Pelzstiefel, ein Wollhemd. Die dicke Pelzjacke aus Fuchsfell, innen mit Hundefell gefüttert, hing an einem Nagel neben der Tür. Im Stall belud Victor Pawlowitsch Unjeski, der Großhändler aus Taragaisk, der als Trauzeuge gekommen war, den Schlitten mit Säcken und Kartons, Flaschen und Büchsen. An der Krippe stand das Pferdchen Sasja und fraß sich voll. Zum erstenmal bekam es reinen Hafer und geschnittene Rüben. Ab und zu hob es den kleinen Kopf, sah Unjeski an und wieherte. Was ist los, du Mensch, sollte das heißen. Hafer und Rüben? Was habt ihr mit mir vor?
    In der Hütte bimmelte eine Glocke. Unjeski warf einen Sack mit Mehl ins Stroh und rannte ins Haus.
    Der Pope stand vor dem Altartisch und hatte die Hände gefaltet. Er sah wie ein Wesen aus einer anderen Welt aus. Das lange, goldene, reich bestickte Gewand vergrößerte seine Gestalt ins Riesenhafte, auf dem Kopf trug er die perlenbesetzte Kamilawka und um die Schulter das breite Phelonion. Dieses Gewand hatte er aus besseren Zeiten gerettet; zusammengefaltet lag es unter zwei losen Dielenbrettern und hatte einige Razzien der Miliz überlebt. Anders war es mit den kreuzverzierten Handbinden seiner Priestertracht, den Epimanikionen. Die hatte er eingebüßt, und nun hatte er ein Handtuch zerschnitten, sich die Handbinden daraus genäht und mit Tusche zwei Kreuze darauf gemalt.
    Olga und Pawel Andrejewitsch kamen aus dem Nebenzimmer. In ihrer Mitte führten sie Anuschka, die Braut, herein. Der Schleier bedeckte ihr schönes Gesicht, sie hielt den Kopf gesenkt und die Augen halb geschlossen. Abels kam ihr entgegen. Sein Herz brannte vor Erschütterung. So ist also unsere Hochzeit, dachte er. Acht Jahre haben wir darauf gewartet, tausend Träume haben sich um diesen Tag gerankt, unzählige Gedanken haben ihn herbeigewünscht … und nun ist es so, daß man sich mit den Fäusten gegen die Brust schlagen möchte und schreien: »O Gott, was ist aus uns geworden? Warum müssen wir Russen, Deutsche, Franzosen, Chinesen, Amerikaner,

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