Ein Mädchen aus Torusk
des Distriktkommissars just in dem Augenblick, in dem Amganow an seinem Schreibtisch ein großes Stück Käse mit der Messerspitze aß.
»Wohl bekomm's, Brüderchen!« sagte Turganow. Dann schlug er dem Sekretär die Tür vor der Nase zu und verschloß sie.
Amganow ließ den Käse in der Schublade verschwinden, denn er erkannte den vereisten Eindringling nicht sogleich. Doch als er losbrüllen wollte, nahm Turganow seine Pelzmütze vom Schädel, und dann lachten sie sich an, küßten sich nach alter Sitte und schüttelten sich wie Arzneiflaschen.
Zehn Minuten später war die fröhliche Wiedersehensstimmung vorbei. Borja Grigorjewitsch Amganow stützte den Kopf in beide Hände und starrte auf ein Rundschreiben aus Jakutsk, das er vor einer Woche bekommen hatte und das sich mit dem Eissprengen an der Lena beschäftigte.
»Das ist ein schwerer Fall, Pawel Andrejewitsch«, erklärte er dumpf. »Ein verdammt schwerer Fall.«
»Darum bin ich ja hier, Freundchen«, sagte Turganow.
»Ein Deutscher, der heimlich zu uns kommt, wegen Anuschka. Dafür gibt es keine Bestimmungen und Gesetze. Da, lies nach!« Er zeigte auf eine Reihe blau eingebundener Bände, die auf einer Konsole standen. »Keinen Ukas gibt es darüber. Und es ist eine alte Weisheit, Pawel Andrejewitsch: Worüber es keine Gesetze gibt, das existiert nicht.«
»Aber Anuschka ist da. Und Tinja auch. Man kann doch nicht sagen, es gibt sie nicht. Und sie lieben sich, Borja Grigorjewitsch.«
»Es ist nur eines möglich«, sagte Amganow und kratzte sich die Nase, »daß ich Abels verhaften lasse.«
»Bist du verrückt?« rief Turganow.
»Es gibt einen Ukas über illegale Einwanderer.«
»Und sonst nichts?«
»Nein.« Amganow sah Turganow traurig an. »Ein Gesetz ist nicht so blöd wie ein Mensch, Pawel Andrejewitsch. Wer denkt daran, daß jemand aus Deutschland kommt, um in Sibirien zu heiraten?«
»Aber sie wollen heiraten. Das ist eine Tatsache.«
»Es wird nicht gehen. Tinja ist kein Russe. Er ist sogar heimlich hier. Das beste, was ihm passieren kann, ist seine Verhaftung.«
»Unmöglich!« schrie Turganow. »Bist du mein Freund, Amganow?«
»Ja, aber auch Beamter. Es wird schwer sein, als Beamter zu vergessen, daß in Torusk ein Illegaler lebt. Aber das ist das einzige, was ich kann. Vergessen. Wir haben uns gesehen, gut. Wir haben geplaudert, gut. Aber von einem Deutschen bei dir weiß ich nichts. Verstanden? Ich werde erst etwas von ihm wissen, wenn irgendein anderer ihn anzeigt. Dann bin ich Vertreter der Obrigkeit, Pawel Andrejewitsch, und kann dir nicht mehr helfen.«
Turganow nickte. Gebe Gott, dachte er, daß der ›Rote‹ sein Maul hält. Und mit der feierlichen Hochzeit wird's auch nichts geben. Zum Kotzen ist's. Immer diese Gesetze, immer die Fessel des Ukas. Ist man ein freier Sowjetbürger oder nicht? Darf man als freier Mensch nicht lieben, wen man will? Warum muß da ein Paragraph stehen wie ein Milizsoldat auf dem Roten Platz von Jakutsk? Ist die Liebe zu regeln wie ein Autoverkehr? Du ab nach links, halt, du ab nach rechts, Straße frei für geradeaus … Wie kompliziert man das menschliche Leben macht, und es könnte doch alles so einfach sein, wenn man ein bißchen mehr Hirn besäße. Vor allem da oben, wo die Gesetzesmacher sitzen.
Unbefriedigt fuhr Turganow nach Torusk zurück. Was er zu Hause erzählen sollte, wußte er noch nicht und grübelte auf dem zweitägigen Heimmarsch angestrengt darüber nach. Kurz vor Torusk traf er auf Hauptmann Samsonow und Martin Abels. Sie saßen vor einem Lagerfeuer und hatten zwei Weißfüchse geschossen. Nun kochten sie einen Tee und aßen Honigbrote.
»Alles in Ordnung, mein Söhnchen!« rief Turganow, und die Lüge kam glatt von seinen Lippen. »Genosse Amganow – er kennt dich noch vom Lager her – ist einverstanden. Das nötige Papierchen kommt in den nächsten Wochen nach.«
In den folgenden Tagen entwickelten Turganow, Unjeski und Hauptmann Samsonow eine rege, aber stille Tätigkeit. Sie holten einen alten, seit zwanzig Jahren nicht mehr amtierenden Popen, der einsam und verbittert wie in der Verbannung lebte, nach Taragaisk und machten ihm klar, daß es seine Pflicht sei vor Gott und den Menschen, Anuschka und Martin Abels nach altem Ritus zu trauen. Man versprach, daß es niemals bekanntwerden würde. »Ich schütze Sie, Väterchen, mit dem Ruhm meiner Soldatenlaufbahn«, sagte Samsonow sogar. »Wir wissen alle, daß Gott abgeschafft wurde, aber es beruhigt, ihn doch noch einmal
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