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Ein Mädchen aus Torusk

Ein Mädchen aus Torusk

Titel: Ein Mädchen aus Torusk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Uns alle wird man danach fragen. Es wird eine harte Zeit kommen.«
    Und jetzt verstand auch Olga, worum es ging. Sie schrie auf und schlug jammernd die Hände über dem Kopf zusammen.
    »Ich lasse mein Täubchen nicht wegziehen!« schrie sie immer wieder. »Ich lasse sie nicht in die Fremde! Ich gebe sie nicht her! Gibt es denn kein Mitleid mehr? Haben die Menschen kein Herz?«
    »Ab heute denkt man in Schigansk politisch, Olga Turganowa«, sagte Hauptmann Samsonow dumpf. »Und Politik und Herz, das paßt nicht zueinander. Ein Wolf sieht aus wie ein Hund, ist er deshalb ein Hund? So ist's auch mit der Politik. Was ist ein Mensch? Ein Staubkorn. Nur wenn man ihn in eine Uniform steckt, avanciert er. Dann wird aus einem Nichts eine Zahl. Aber mehr auch nicht. Und diese Zahl streicht man in den Listen wieder durch, wenn der Mensch getötet wird und wieder Nichts wird. So einfach ist das mit der Politik. Nicht umsonst bemühen sich so viele, Politiker zu werden. Es ist ein besonderer Reiz darin, mit Menschen und Zahlen zu spielen, man kann beseligt davon werden wie in einer Trunkenheit. Mitleid, Olga Turganowa? Mitleid ist für einen Politiker eine Infektion, an der er zugrunde geht.« Samsonow seufzte wieder. »Es bleibt kein anderer Weg … Tinja und Anuschka müssen weit weg sein, bevor sie aus Schigansk zu uns kommen.«
    Am Abend, als Anuschka und Abels aus Taragaisk zurückkehrten, fanden sie eine weinende Olga und einen halb betrunkenen Samsonow vor. Turganow saß am Ofen und grübelte.
    »Es ist etwas geschehen, Kinder«, sagte er, als Anuschka nach dem Begrüßungskuß zu Mütterchen Olga lief und dort mit dem Schrei: »Mein armes Vögelchen!« empfangen wurde. Martin Abels sah auf den schwankenden und stierblickenden Samsonow und begriff.
    »Man hat mich angezeigt?« fragte er heiser.
    »Ja, Tinja.«
    »Nikolka!«
    »Ja.«
    »Und was nun?«
    »In zwei Tagen wird Amganow kommen und dich abholen. Verstehst du? In zwei Tagen!«
    Abels nickte. Wir haben Anfang März, dachte er. In Sibirien wird der Winter noch anhalten, aber unten im Süden, in der Steppe, in der Mongolei, bei Chingai-Butu und Burkja und Onkel Churu wird in drei Wochen der warme Frühlingswind wehen und werden die Krokusse aus der Erde stechen. Zweitausend Kilometer wieder zurück, den gleichen unendlichen Weg, durch die Wälder, über die Lena, durch die Sümpfe, ins Gebirge, in die Steppe und den Dschungel … jetzt kam ihm dies unmöglich vor, wenn er die zarte Anuschka ansah, die mit ihm wandern mußte, zweitausend Kilometer zu Fuß. Und doch war es von Anfang an so geplant worden. Eine Rückkehr nach Europa mit Anuschka, seiner schönen Frau aus Sibirien. Nur zu plötzlich kam es, zu schnell, man hatte kaum Atem geschöpft von der Hinfahrt … und es würde wieder eine Flucht sein, ein gnadenloser Kampf gegen die Zeit.
    »Es gibt keine andere Möglichkeit, Tinja«, sagte Hauptmann Samsonow. »Du kennst unser Land, unsere Menschen, unsere Behörden. Es ist umsonst, auf Gnade zu hoffen. Du mußt gehen.«
    Martin Abels nickte. Ein Blick Anuschkas verriet ihm, daß sie genauso dachte wie er. Er brauchte nicht zu fragen.
    »Wir werden sofort alles Nötige packen«, sagte er hart. »Freunde, helft uns!«
    »Ich gebe dir hundert Rubel und meinen Schlitten«, sagte Samsonow. Er hatte Tränen in den Augen.
    »Und von mir bekommst du Sasja, mein Pferdchen!« sagte Pawel Andrejewitsch Turganow.
    In der Ecke am Herd heulte Olga auf. Ihr Mutterherz zersprang fast. Sie umklammerte Anuschka und hielt sie fest, als könne sie damit das Schicksal wie einen wild gewordenen Gaul anhalten.
    In Pawel Turganows Hütte wurde in diesen drei Tagen mehr geweint und geflucht als in den letzten zehn Jahren zusammen.
    Hauptmann Samsonow war der erste, der daran dachte. In der Aufregung hatte man es völlig vergessen: die Hochzeit und der bestellte Pope. In vier Tagen sollte sie sein. Anuschka war bei den letzten Nähstichen des Brautkleides. Der einzige Gastwirt in Torusk hatte bereits Kalkulationen angestellt und sich ausgerechnet, daß diese Hochzeit – so unkommunistisch sie auch sein würde und ein Beweis, daß die Bourgeoisie auch in Sibirien noch nicht ausgerottet war, nein, im Gegenteil, noch immer spukte die verdammte Zarenzeit in den Gehirnen – ein gutes Geschäft sei, denn Turganow war wohlhabend, nach Torusker Begriffen. Und der Pope saß in Taragaisk, putzte seine Meßgefäße aus Messing und Silber, flickte seinen goldbestickten Priesterrock, und kämmte

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