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Ein Mädchen aus Torusk

Ein Mädchen aus Torusk

Titel: Ein Mädchen aus Torusk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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zu bemühen. Betrachten wir es als eine historische Theateraufführung.«
    Das war ein Weg. Hoch dem Hauptmann Samsonow. Er war nicht umsonst der geistige Mittelpunkt von Torusk.
    In aller Stille wurde die Hochzeit vorbereitet.
    Eine Woche vor dem Fest jagte eine traurige Nachricht eine Gänsehaut über die Rücken der Torusker: In der Umgebung, keine sieben Werst weit entfernt, hatte ein Tigerpaar einen Schlitten überfallen. Alle Insassen, es waren vier Fellhändler, waren zerrissen worden. Von einem fand man nur noch einen blutigen Stiefel.
    Die Torusker Männer zogen in den Urwald, die beiden gestreiften Mörder zu jagen. Auch Martin Abels zog mit, und der ›Rote‹ ebenfalls. Turganow wurde sehr nachdenklich. Er ahnte Übles.

*
    Auch im Hause des Reeders Holgerson wurden Hochzeitsvorbereitungen getroffen. Der renommierteste Modesalon Bremens wurde beauftragt, ein Modellkleid zu entwerfen. Der alte Holgerson stellte Listen zusammen, wer erstens eine Vermählungsanzeige bekommen sollte und wer zweitens zur Feier eingeladen werden mußte. Das war eine sehr diffizile Angelegenheit, denn niemand, der in der Bremer Gesellschaft eine Rolle spielte, durfte vergessen werden. Wer zu dieser Hochzeit nicht eingeladen wurde, würde als nicht salonfähig betrachtet werden. Daran können in einer Hansestadt mit alter Tradition sogar Familien und blühende Geschäfte zugrunde gehen. Es galt also, die richtigen Namen herauszusuchen. Reeder Holgerson kam nach der ersten Übersicht auf über 120 Gäste, was bedeutete, daß man die Hochzeit nicht zu Hause, sondern in einem großen Hotel feiern mußte.
    Der Bräutigam, Benno Fahrenkrug, weilte noch in Südafrika. Inken Holgerson hatte sich von allen Freundinnen distanziert und keine Veranstaltungen mehr besucht. Einsam hinkte sie in der schloßähnlichen Villa ihres Vaters herum. Oft sah man sie, eingehüllt in dicke Kamelhaardecken, auf dem Balkon in der Sonne liegen und über das verschneite Land blicken.
    Ihr Schicksal war endgültig. Die letzte Reise nach Moskau hatte es bestätigt. Auch Professor Demichow, der das Unmögliche in der Chirurgie wagte, hatte sich zwar zur Operation bereit erklärt, aber auch er konnte keine Garantie übernehmen, daß der Eingriff gelang. Wer konnte das schon?
    Inken hatte es daraufhin abgelehnt, sich auf den OP-Tisch zu legen, ja, sie hatte bestimmt: Das war die letzte Reise. Ich will nicht mehr durch die Welt hetzen.
    Die Verlobung mit Benno Fahrenkrug war im Grunde eine bittere Komödie. Gewiß, Benno liebte sie wirklich, und auch sie empfand Sympathie zu dem netten, weltaufgeschlossenen, höflichen und fürsorglichen Mann. Aber mehr auch nicht. Sie konnte es ihm nicht sagen, und sie konnte es vor allem ihrem Vater nicht antun, nun wieder mit einem harten Nein alles wegzudrücken, was der alte Holgerson in den vergangenen Wochen aufgebaut hatte. Sie sah, wie froh ihr Vater war, daß sie die Affäre mit Martin Abels überwunden hatte, und daß es jetzt wirklich um die Ehre der Familie Holgerson ging, mit einer Heirat innerhalb des exklusiven Kreises den Namen Abels ein für allemal wegzuwischen. Einen Namen, den sowieso niemand mehr nannte, nachdem man wußte, daß Martin Abels irgendwo in der Mongolei verfault war, ein Opfer seiner Wahnidee, einem russischen Mädchen nachzujagen. Das Ende eines Spinners, wie man wenig höflich flüsterte. Er war der Beweis, daß ein Außenseiter in Bremens Gesellschaft untergehen mußte.
    Weihnachten und Silvester gingen still vorüber. Inken klagte über Schmerzen im Bein und im Hüftgelenk, und der Arzt verschrieb Schlaftabletten und schmerzstillende Mittel. Inken nahm sie nicht ein, denn ihre Schmerzen waren simuliert. Sie sammelte die täglich verabreichten Tabletten in einer Schachtel, die sie unter ihrer Wäsche im Schrank versteckte. Als sie dreißig Tabletten beisammen hatte, ließen die Schmerzen nach. Reeder Holgerson freute sich und atmete auf. Eine Knochenentzündung, die möglich hätte sein können, war vorbeigegangen. Sie hätte die Amputation des Beines nach sich ziehen müssen. Er ahnte nicht, daß eine weit größere Gefahr im Schrank von Inkens weißem Schleiflackzimmer lauerte, verborgen unter hauchzarten französischen Kombinationen.
    Wann Inken auf diese dreißig Tabletten zurückgreifen wollte, wußte sie selbst noch nicht. Sie wußte nur, daß es einmal sein mußte, daß es keinen anderen Ausweg mehr gab aus der für sie grauenhaften Situation: für immer ein hinkender, entstellter

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