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Ein Mädchen aus Torusk

Ein Mädchen aus Torusk

Titel: Ein Mädchen aus Torusk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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wird's, Genossen!«
    Anuschka riß sich aus den Armen der Mutter los und rannte aus dem Haus. Abels ging noch einmal zurück zu Turganow.
    »Anuschka ist mir mehr wert als mein Leben«, sagte er ernst. »Das weißt du, Pawel Andrejewitsch. Es wird immer so bleiben.«
    »Ich verliere mein Vögelchen«, sagte Turganow ganz klein, wie ein greinendes Kind. In ihm zerbrach etwas, der Sinn seines Lebens war zerstört. Von einer Stunde zur anderen, das spürte er nun, war er ein Greis geworden.
    »Wir werden euch besuchen«, sagte Abels und wußte, daß es unmöglich sein würde. Pawel Andrejewitsch lächelte schwach und faßte Abels unter. So gingen sie hinaus vor das Haus und zum Schlitten. Anuschka saß schon, in Decken gewickelt, neben den Proviantsäcken und Kisten, über die Knie ein Gewehr, das ihr Unjeski gegeben hatte. Olga hielt das Pferd am Zügel und weinte, und ihre Tränen gefroren sofort und kullerten als Eistropfen über die kälteroten Wangen. Samsonow und der Pope hatten einen Streit angefangen. Es ging darum, wie Abels am sichersten fahren sollte. Samsonow schrie: »Über Taragaisk kommt er schneller weg!«, und der Pope, der sich jahrelang in den Wäldern versteckt gehalten hatte, als die große Razzia auf die Priester stattgefunden hatte, schrie zurück: »Gott strafe dich, Hauptmann! Wenn er quer durch den Wald fährt und über die Lindja, ist er sicherer. Niemand wird ihn dort suchen!«
    Abels setzte sich vor Anuschka in den Schlitten und nahm die Zügel. Sasja, das Pferdchen, hob den struppigen Kopf. Eis hing an seiner Mähne wie dicke Silberfäden.
    »Gott mit euch!« sagte Turganow und hob beide Hände. Olga, das Mütterchen, klammerte sich an Turganows Pelz fest, sie wäre sonst umgefallen vor mütterlichem Schmerz. Ich sehe sie nie wieder, schrie es in ihr. Sie geht aus der Welt! Ich habe Anuschka verloren. Ich habe kein Kind mehr. Ich bin allein.
    Martin Abels beugte sich vor, nachdem er einen dicken Wolfspelz über sich gezogen hatte. Noch einmal drückte er die Hände von Unjeski, dem Großhändler, und von Hauptmann Samsonow, dem Offizier mit dem steifen Bein, der einmal sein Lagerkommandant in der Taiga gewesen war.
    »Lebt wohl, Freunde!« rief er mit bebender Stimme.
    »Vergiß uns nicht, Tinja!« sagte Samsonow heiser. Er stand hoch aufgerichtet im Schnee, er war Offizier, er mußte sich beherrschen. Mochte jetzt auch der harte Turganow heulen wie ein junger Hund … er legte die Hand an die Fellmütze und grüßte, als stehe er bei einer Parade. Auch ihn würgte es im Hals, als er Anuschka ansah, das schmale, kleine, zarte, zuckende Gesichtchen im Fellrahmen des Fuchspelzes. Aber er schluckte mannhaft die Tränen hinunter und biß die Zähne zusammen, daß man sie knirschen hörte.
    »Hoij! Hoij!« schrie Abels und schnalzte mit den Zügeln. Sasja, das Pferdchen, wieherte auf, die kleinen, harten Hufe stemmten sich in den Schnee, die Schlittenkufen knirschten, verharschter Schnee zersprang wie Glas, langsam glitt der Schlitten an und fuhr davon.
    »Anuschka!« schrie Olga Turganowa. Pawel Andrejewitsch hielt sie fest, sie hätte sich sonst vor den Schlitten geworfen. »Anuschkaschka! Oh! Oh!« Sie stieß um sich, boxte ihren Mann ins Gesicht, spuckte Samsonow an, als er Turganow zu Hilfe eilte und sie festhielt. Wie von Sinnen war sie, ihr Herz blutete aus, und sie hatte keine Gewalt mehr über sich. »Laßt mich!« schrie sie. »Laßt mich sterben, unter ihrem Schlitten, bindet mich an und laßt mich mitschleifen! Anuschka! Bleib! Bleib!« Und als sie sah, daß sie gegen vier starke Männer nicht ankam, daß Kratzen, Schlagen, Treten und Spucken nichts half, riß sie den Mund weit auf und brüllte: »Du verdammter Deutscher! Du Hundesohn! Du Mörder! Du kapitalistischer Hund! Du deutsches Schwein!«
    Samsonow nickte Unjeski zu. Sie schleiften Olga in das Haus zurück, preßten sie auf die Ofenbank und hielten die Tobende so lange fest, bis ihre Kraft weggeschrien war und sie zusammenfiel wie ein leerer Hafersack.
    Allein stand Pawel Andrejewitsch Turganow im Schnee, der stämmige, krummbeinige jakutische Jäger, und winkte einsam seiner Tochter nach. Anuschka winkte zurück, solange sie die dunkle Gestalt im Schnee sehen konnte … sie winkte, bis es nur noch ein Punkt war … und dann sah sie nur noch die letzten Hütten von Torusk, im Schnee versunken, zugeweht, umgaukelt von den weißen Schwaden des Rauchs aus den Kaminen. Dort, das große Haus, das war die Wirtschaft und Station.

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