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Ein Mädchen aus Torusk

Ein Mädchen aus Torusk

Titel: Ein Mädchen aus Torusk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Aber sie werden sich wünschen, auch solch ein Tier zu haben oder zu sein.« Er preßte sie an sich und dachte plötzlich an die Bremer Gesellschaft. Mein Gott, wie unendlich weit lag Bremen. Vier Monate lang war dieses Wort aus seinem Gedächtnis verschwunden gewesen, nun tauchte es wieder auf. Bremen. Die Geldaristokratie. Die Großkaufleute und Reeder. Der Adel des Bankkontos. Eine festgefügte, durch Interessen und Einheirat zusammengeschweißte eigene Welt. In sie hinein setzte er jetzt Anuschka, das Mädchen aus Torusk, die Tochter eines jakutischen Fallenstellers und Jägers. Ein Hauch Sibirien und Taiga wehte durch die Salons an der Unterweser. Wie würden sie es aufnehmen, die Nachkommen von Kommerzienräten und Senatoren?
    »Ich bin bei dir«, sagte er und wußte in diesem Augenblick, daß Anuschka das Richtige fühlte. »Du brauchst vor keinem Angst zu haben.«
    An die Tür klopfte es. Unjeski, der Ungeduldige, rief: »Aufhören mit dem Heiraten! Ihr müßt fahren!«
    Anuschka schlüpfte in die dicke Felljacke. An Lederschnüren hingen Pelzhandschuhe um ihren Hals. Martin Abels nickte. Es war soweit. Der Abschied. Die Flucht zurück in ein geordnetes Leben begann. Geordnet, dachte Abels. Wie anmaßend das klingt. Er erschrak vor sich selbst, daß er jetzt völlig unbewußt wieder in die westliche Denkart glitt. Jetzt schon, dachte er. Und ich stehe noch mitten im einsamsten Sibirien. Vor acht Jahren, als man ihn als einen der letzten Plennys gewaltsam aus der Taiga holen mußte, hatte er geglaubt, durch die Liebe zu Anuschka und zu diesem wilden, gefürchteten, verfluchten, gehaßten und doch so wunderbaren Land ein Russe geworden zu sein. Und als er vor zwei Monaten aus dem Wald trat und Torusk wiedersah, war es ihm gewesen, als sei die Zeit stillgestanden und er wäre gerade von einer Jagd gekommen. Er dachte, er fühlte, er handelte, er sprach wie die Sibiriaken. Hier ist meine Welt, hatte er gedacht. Jeder Mensch ist auf der Suche nach dem Land seiner Träume. Ich habe es gefunden. Zweimal.
    Jetzt war das plötzlich anders. Jetzt erkannte er die großen Gegensätze und die Unmöglichkeit, seine westliche Welt völlig zu vergessen und ein Jakute aus Torusk zu sein. Er dachte an das Leben, das Anuschka in Bremen in der weißen Villa des Fabrikanten Abels führen würde. Sie brauchte keine Stiefel mehr anzuziehen, um an dem Brunnen Wasser zu holen. Sie brauchte kein Holz mehr zu hacken, und das Waschen der Wäsche in der Banja, wo man die heißen Stücke über gerillte Bretter schlug und schrubbte, nahm eine blinkende Maschine ab, die nach einem Knopfdruck zu denken begann. Es gab kein Felleschaben mehr, kein Kartoffelschälen, kein Ausgraben des sauren Kohls aus den Mieten, kein Flicken zerrissener Pelze, kein Entkernen von Sonnenblumen, kein Pflügen im steinigen Acker, kein Kochen über dem offenen Feuer im gemauerten Herd. Statt auf der Plattform des heißen Ofens würde sie auf einer Schaumgummimatratze unter weißen Damastbezügen schlafen, und morgens weckte sie kein Stoß in die Seite, sondern sie würde erwachen können, wann sie wollte, und ein Hausmädchen zog die Rolläden hoch und sagte: »Gnädige Frau, das Frühstück ist heute auf der Terrasse bereitgestellt.«
    Alles war wieder gegenwärtig, jetzt, hier, in Sibirien, an der Lena, im einsamsten Land der Erde, von dem die Sage erzählt, einmal sei hier ein Tiger weinend vor Einsamkeit gestorben.
    Martin Abels wischte sich über die Augen.
    »Was hast du, Tinja?« fragte Anuschka.
    »Wir müssen aufbrechen«, sagte Abels rauh.
    Als sie aus der Kammer traten, reisefertig, unförmig in den Fellsachen und Steppanzügen, standen Turganow und Olga allein im Zimmer. Unjeski und Hauptmann Samsonow waren beim Schlitten, und auch der Pope war dort, umkreiste das Gefährt und Sasja, das Pferdchen, und segnete sie.
    Stumm umarmte Turganow zum letztenmal seine Tochter. Er sagte kein Wort dabei, er küßte sie, streichelte ihr schmales, zuckendes Gesicht und blickte ihr tief in die Augen.
    Leb wohl, mein Täubchen, hieß dieser Blick. Mögest du in das große Glück deines Lebens fahren … für mich bist du mit dieser Stunde wie gestorben. Ich sehe dich nie wieder. Nie!
    Olga Turganowa, die Mutter, war sprachlos vor Weinen. Immer wieder umarmte sie Anuschka und Martin Abels, wollte etwas sagen, öffnete den Mund, aber es war nur ein Stöhnen und helles Wimmern, das von ihren Lippen kam.
    Samsonow steckte den Kopf durch die Tür und winkte.
    »Zeit

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