Ein Mädchen aus Torusk
den Kopf.
»Das wird sie nie aussagen, Njuschka Felkanowa.«
»Sie wissen nicht, was man alles aussagt, wenn man erst in den Händen der Kommissare ist. Einen ganz großen Ankläger haben sie extra aus Moskau kommen lassen. O Gott im Himmel, man wird uns deportieren! Sie haben uns Unglück ins Haus gebracht, Nikolai Stepanowitsch.«
»Es ist sinnlos, jetzt darüber zu jammern!« Felkanow band sich einen Schlips um, einen roten Schlips, auf den er besonders stolz war. Bei öffentlichen Anlässen trug er ihn immer, denn es kam darauf an, jedem deutlich zu machen, wie überzeugt er der roten Fahne nachlief und daß er tief in seiner Seele ein Bolschewist war. »Ich glaube vielmehr, sie wird über Nikolai Stepanowitsch reden. Wenn sie klug ist, erzählt sie ein Märchen, das man ihr glaubt. Ich habe gehört, vom Genossen Parteisekretär, sie soll berichtet haben, dieser Nikolai sei auf dem Weg nach Irkutsk gewesen, habe sich aber verirrt in der Taiga. Sechs Tage lang hat die Polizeihubschrauberstaffel von Tschita das Gebiet in den Udokal-Bergen abgesucht.« Felkanow lachte fett. »Vier geflüchtete Sträflinge hat man erwischt, aber nicht diesen Nikolai. Wie findest du das, Brüderchen?« Er stieß Abels in den Rücken und lachte schallend.
Martin Abels hatte Anuschka aus dem Pelz geholfen, sie saß nun bei Njuschka am Feuer und tröstete sie. Ein verwegener Gedanke kam ihm, er unterbrach das Gelächter Felkanows mit der Hand, indem er sie ihm einfach auf den Mund legte.
»Die Verhandlung gegen Betty ist öffentlich?« fragte er.
»Ja und nein. Es gibt Karten dafür. Aber sie sind alle vergriffen. Man rechnet mit einem Todesurteil. Seit der Revolution ist in Tschita keine Frau mehr hingerichtet worden. Es wird einen Volksauflauf geben!«
»Und du hast Karten?«
»Zwei. Aber Njuschka geht nicht mit.«
»Besorge noch eine, und Anuschka und ich gehen mit dir.«
Felkanow kratzte sich die Stirn. »Ich werde fragen, Martin.« Plötzlich sprach er deutsch, und Anuschka hob erstaunt den Kopf. »Wenn sie dich erkennt, das kann gefährlich sein.«
»Nein! Sie wird dann wissen, daß ich in Sicherheit bin und ihren Brief bekommen habe.«
»Ich hoffe im Parteibüro noch eine Karte zu bekommen. Wir müssen dann aber mit dem letzten Zug fahren.«
»Natürlich.«
»Und der Schlitten? Das Pferd?«
»Ich schenke dir alles, weil du nicht vergessen hast, was Kameradschaft ist.«
»Um Gottes willen, das geht nicht.« Felkanow hob abwehrend beide Hände. »In Rußland verschenkt man so etwas nicht. Es würde uns sofort verdächtig machen. Verkauf es heute noch. Irgendwo. Halt! Ich kenne einen Händler, der kauft alles, wenn es ein Geschäft ist, und sollten es sogar die Haare des Teufels sein. Natürlich wird er einen niedrigen Preis bezahlen. Er ist ein Lump und streicht für deine Notlage ein paar Rubelchen ab.«
»Soll er!« Martin knöpfte seinen Pelz wieder zu. »Wir könnten sofort gehen.«
»Wohin?« fragte Anuschka vom Ofen her.
»Ich gehe mit Stepan Michailowitsch, um Sasja zu verkaufen. Es ist notwendig, Anuschka.«
Sie nickte, erhob sich vom Schemel und ging mit den beiden Männern hinaus. Während Felkanow und Abels den Schlitten ausluden und die Lebensmittel in den Stall brachten, streichelte Anuschka die Nüstern Sasjas, küßte sie auf die Stirn und kraulte ihr das struppige Nackenfell.
»Mein Liebling«, sagte sie leise. »Mein treues Gäulchen. Du wirst es gut haben, glaube es mir. Genug gute Menschen gibt es, die ein Pferdchen lieben wie dich. Du warst immer ein treues Tierchen, ich danke dir, Sasjaschka.«
Der Händler Plastunow hatte sein Magazin in der Nähe des Bahnhofes. Das war nicht zufällig. Wer Waren hin- und herschiebt, muß in der Nähe von Schienen und Straßen sein, um schnell ab- und aufzuladen, vor allem nachts, wenn ehrliche Menschen schlafen und glauben, die Welt sei gut. Plastunow war ein dicker, gewichtiger Mann, dem man ansah, daß er gute Geschäfte machte. Durch Stiftungen für die Komsomolzenhalle von Tygdinsk hatte er sich abgesichert gegen alle Kontrollen. Seine Geschäftsbücher waren unverdächtig. Außerdem war er der Freund des Bürgermeisters von Tygdinsk. Was will man also mehr?
Plastunow umkreiste den Schlitten und Sasja, das Pferdchen, ein paarmal wie ein Geier, kratzte sich dann den Kopf, schob die Unterlippe vor und sagte: »Genossen, der Schlitten ist halb verfault, und das Pferd … hat man jemals schon eine so ausgemergelte Mähre gesehen wie diese? Wenn ich sie
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