Ein Mädchen aus Torusk
dunklen Humor der Verlorenen: »Mein Herr, es ist serviert. Five o'clock ! Nehmen Sie Zucker und Sahne zum Tee?«
Damals … wie lange war es her? Wirklich erst fünf Monate? Manchmal hatte er das Gefühl, daß es erst gestern gewesen sei, dann wieder kam ihm die Zeit unendlich weit vor, als lägen Jahre dazwischen. In dieser Weite des Landes, in dieser vollkommenen Einsamkeit verliert man einen Zeitbegriff. Man kann die Zeit nur fühlen, und so schrumpfen die Tage oder dehnen sich ins Unermeßliche, ganz wie das Erleben war. Gegenwärtig bleibt nur das Gefühl, ein Nichts zu sein in dieser grenzenlosen Welt, die aus Wind und Eis besteht, aus Schnee und Frostnebel, aus Himmel und Erde, die eins werden und ineinander übergehen, als fräßen sie sich gegenseitig auf.
Sie erreichten Tygdinsk, den Endpunkt der Bahn, gegen Mittag. Der Wasserturm war wieder der markante Orientierungspunkt. Sie glitten an den Bahngleisen entlang, an den ungezählten Holzstapeln, den rangierenden Güterwagen und den pfeifenden und schimpfenden Arbeitern. Neu waren lediglich große Kolonnen von Frauen, in ihren Wattejacken wie Klöße mit Füßen aussehend. Sie schleppten die Rundhölzer zu den Waggons, schichteten neue Stapel auf und reinigten die vielen Rangiergleise mit Besen, Schaufeln und brennenden Karbidlampen von Eis und Schneeverwehungen. Ab und zu sah man zwischen den Frauen einen Uniformierten stehen, die Maschinenpistole vor der Brust. Er stampfte hin und her, fror erbärmlich und verfluchte sicherlich seinen stumpfsinnigen Dienst.
»Das sind Strafgefangene aus dem Frauenlager«, sagte Anuschka leise, als könne man sie hören, wenn sie gegen das Ohr Martins sprach. »Ich kenne das. In Torusk waren auch einmal Frauen. Im Sommer. Sie mußten im Wald roden. Hauptmann Samsonow hat sich erkundigt, was sie verbrochen haben. Weißt du, was die Posten geantwortet haben? ›Frag nicht, Genosse! Sie helfen mit am Aufbau des Staates – ist das nicht genug?‹ Und Samsonow hat auch nicht weiter gefragt.«
Im Hause von Stepan Michailowitsch Felkanow, dem sowjetischen Bahnarbeiter aus Bückeburg, der einmal Stefan Feldmann geheißen hatte, war dessen Frau Njuschka gerade dabei, einen blauen Sonntagsanzug auszubürsten. Felkanow saß in der Unterhose vor dem Ofen, als Abels eintrat und rief: »Da sind wir wieder, mein Lieber!«
»O Gott!« sagte Stepan Michailowitsch. Er deckte seine breiten Hände über seinen Schoß, als er den Kopf Anuschkas in der Tür auftauchen sah, und klemmte die Knie zusammen. »Ein anständiger Mensch klopft an!«
»Ich wollte dich überraschen, mein Freund.« Abels lachte und schob Anuschka in die warme Stube. Njuschka kam mit der Hose, erkannte Abels wieder und ließ das ausgebürstete Kleidungsstück vor Schreck auf den Boden fallen, wo es wieder staubig wurde.
»Er ist hier«, stammelte sie und starrte ihren Mann an. »Er weiß noch gar nichts! O Gott! O Gott! Wir werden alle in Karaganda enden.«
Felkanow angelte nach seiner Hose, überwand sich und stieg hinein. Wenn das Anuschka ist, die er gesucht hat, brauche ich mich nicht zu zieren, dachte er. Sie wird schon wissen, wie ein Mann in einer Unterhose aussieht, und noch manches mehr. Dieser Gedanke machte ihn fröhlicher, als er es wollte. Er knöpfte den Hosenbund zu und den Schlitz, strich zur Kontrolle noch einmal darüber und war zufrieden. Dann kam er auf Abels zu, umarmte ihn, küßte ihn nach russischer Art auf beide Wangen und tat das gleiche mit Anuschka, was ihm unvergleichbar besser gefiel. Ein schönes Mädchen, dachte er dabei. Ein herrliches Vögelchen. In ihren Augen schläft das Geheimnis der Unendlichkeit. Zum Verlieben ist sie, wahrhaftig. Man kann verstehen, daß ein Mann dafür durch Hölle und Sturm geht, auch wenn's im Grunde unbegreiflich ist. Aber was gibt es Unbegreiflicheres als die Liebe?
»Du kommst zu einer dunklen Stunde, Bruderherz«, sagte Felkanow und streckte die Arme nach hinten. Njuschka hielt ihm den Rock hin, und er schlüpfte hinein. »Ich habe eine Einladung erhalten. Wir alle von der Auswahlliste der Partei sind dazu eingeladen. Es soll interessanter werden als jedes Theaterstück von Gorkij. Morgen geht es los. Um neun Uhr. Im Saal des Parteihauses. Der große Prozeß gegen die Spionin Betty Cormick.«
»O Gott! O Gott!« jammerte Njuschka wieder. »Wenn sie erzählt, daß sie bei uns im Stroh geschlafen hat.« Sie weinte laut, schlug die Hände vor das Gesicht und setzte sich an den Ofen. Abels schüttelte
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