Ein Mädchen aus Torusk
behandelt, gab ihr ein gutes Essen, ein Matratzenbett mit einer Daunendecke, gab ihr Zeitungen und Bücher und verhörte sie nur zweimal mit einer verwunderlichen Galanterie. Man bot ihr Zigaretten an, servierte grünen Tee mit Sahne und Zucker, erkundigte sich, ob sie zufrieden sei und ob sie gestehe, eine amerikanische Spionin zu sein. Als Betty Cormick unbefangen – und ohne zu zögern »Ja« sagte, war man sehr zufrieden. Auch als beim zweiten Verhör Ankläger Frolowski fragte, ob sie Namen nennen könne, nannte sie freimütig alle Namen, die sie aus ihrer Ausbildungszeit in Texas und Alaska her kannte. Nur Namen in Rußland konnte sie nicht nennen. Hier wußte sie Chiffren. Da dies gebräuchlich war, brach man das Verhör ab, weil es nichts weiter zu fragen gab. Nur Ankläger Frolowski blieb hinterher noch zwei Stunden mit Betty Cormick allein im Zimmer. Als er herauskam, nickte er dem General Birjukow zufrieden zu. »Es geht in Ordnung!« sagte Frolowski. »Sie ist eine kluge Frau. Ich glaube, wir haben einen ganz großen Fisch gefangen.«
Frolowski verlas jetzt die Anklageschrift. Er erwähnte dabei am Rande auch den Filmregisseur Tasskan. »Das Verfahren gegen Wassilij Petrowitsch Tasskan ist abgetrennt worden, da sich der Angeklagte eine Lungenentzündung zugezogen hat und nicht verhandlungsfähig ist. Der Prozeß gegen Tasskan wird daher zu einem späteren Zeitpunkt anberaumt werden.«
Die Menschen im Saal schwiegen. Jeder wußte, was das bedeutete. Man sah Tasskan nie wieder, es würde nie einen neuen Prozeß geben. Er war schon ein toter Mann, obwohl er noch in den Akten lebte. Vielleicht moderte er schon in einem unbekannten Grab, wer weiß es? Doch was kümmert's uns, Genossen? Wichtig ist allein die Amerikanerin.
Betty Cormick sah während der Verlesung der Anklage wieder in den Saal. Plötzlich zuckte sie zusammen, ihre Finger verkrampften sich ineinander und fielen in den Schoß zurück.
Sie hatte Martin Abels erkannt. Er saß mit einem schwarzhaarigen Mädchen neben sich in der zweiten Reihe und verstand, daß sie ihn bemerkt hatte. Er senkte langsam den Kopf und hob ihn wieder, es war ein Nicken und ein Gruß, eine Bestätigung und ein Dank zugleich.
Das also ist Anuschka, seine große Liebe –, dachte Betty Cormick und sah das Mädchen neben Abels an. Sie ist hübsch, gewiß, sie muß auf einen Mann betörend wirken. Ihre dunklen, leicht geschlitzten Augen versprechen eine ganze Welt Glückseligkeit. Aber lohnt es sich, Martin Abels, dafür sein Leben aufs Spiel zu setzen? Ist ein Mensch das überhaupt wert? Überschätzen wir nicht alle die Größe eines Menschen? Sieh Tasskan an, Martin Abels. Er hat nach einer Stunde alles aus sich herausgeschrien, er hat mich verraten, mich, der er zuvor geschworen hatte, daß er sein Leben lassen würde für mich. Alles Geschwätz, mein Lieber, leeres Stroh, das immer und immer wieder gedroschen wird, und wir lassen uns von dem hohlen Klang einfangen, weil wir nur in Illusionen leben. Das Leben ohne Illusion ist die Hölle, Martin Abels. Ich habe sie durchstreift, diese Hölle, und selbst ich, nüchtern wie eine polierte Platte aus Chromnickelstahl, fiel schließlich in den Traum vom Glück. Es lohnt sich nicht, mein Bester! Man muß bezahlen für jede Stunde der Illusion! Nun hast du dein Mädchen Anuschka neben dir, die Flucht nach Deutschland mag dir vielleicht gelingen – und was dann? Hast du schon einmal darüber nachgedacht, was dieses Mädchen aus Sibirien in deiner Welt soll? Wie sie leben wird, wie sie sich zurechtfinden muß, ob sie nicht immer ein Außenseiter bleiben wird, bespöttelt von den anderen: Die Sibirierin! Die Halbasiatin! Sie weiß nicht einmal, was Cha-cha-cha ist oder daß Kandinsky verrückt wurde. Und Karajan hält sie für ein Bodenputzmittel, haha! Immer blank mit Karajan! Ist das ein Witz! So etwas heiratet er, der reiche Martin Abels. Der Junge ist verrückt. Ob sie zu Hause jetzt Rentierfleisch essen? Garniert mit Tannenzapfen. Was hat man da mal gelesen? Die Tataren legten das Fleisch unter den Sattel und ritten es gar. Steak tatar! Ob sie auch reiten kann? Ich meine, auf einem Pferd. Huhu! Eurasierinnen sollen leidenschaftlich sein! Der gute Martin Abels wird bald eine Reise buchen müssen. In ein Herzbad. Totaler Erschöpfungszustand. Die Steppe auf der Matratze – gut, was? Ein neuer Filmtitel der Neuen Welle.
So wird das sein, mein lieber Martin Abels. Die Welt ist grausam, sie ist kannibalisch; je reicher und
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