Ein Mädchen aus Torusk
zerbrechlich wie ein Porzellanpüppchen, ein Mensch aus göttlichen Zutaten: Haar, schwarz wie die nächtlichen Wälder der Taiga; Haut, so weiß wie die Schneesteppe; Lippen, so rot wie das Abendrot über Sibirien. Sie verschlief die ganze Fahrt von Tygdinsk bis Tschita. Als sie am Morgen auf dem großen Bahnhof des Eisenbahnknotenpunktes ankamen, wehte eine Frühlingsahnung über das Land. Von Süden her, aus der Mongolei, zog ein samtblauer Himmel heran, durchsetzt mit weißen Federwölkchen. Der erste blaue Himmel seit Wochen. Es war mild, als sie ausstiegen, ja, sie empfanden es direkt warm, und als Felkanow auf das große Bahnhofsthermometer schaute, riß er seinen Pelz auf, als ersticke er vor Hitze. »Wahrhaftig! Sieben Grad unter Null!« sagte er fröhlich. »Väterchen Frost ist besiegt. Das neue Jahr beginnt.«
Sie kamen gerade zur rechten Zeit. Vor dem Parteihaus standen die Leute Schlange, aber Felkanow und die anderen Genossen stellten sich nicht hinten an, sondern drängten sich durch die Mauer der stoßenden und sturen Körper, schrien: »Aus dem Weg. Hier kommen welche, die schon Karten haben! Macht doch Platz, Brüder! Was behindert ihr den Weg? Habt ihr so etwas bei den Schulungsabenden gelernt? Platz da! Die Abordnung der Partei von Tygdinsk will rein!« und schoben und stießen und eroberten schließlich den Eingang. Dort standen vier Milizsoldaten wie die Erzengel, kontrollierten die Eintrittskarten, nickten, rissen die Karten mittendurch und gaben die Tür frei.
Im großen Festsaal standen bis zur Mitte enge Stuhlreihen für die Zuhörer. An der Schmalwand war, etwas erhöht auf einem Holzpodest, der Richtertisch aufgebaut, bedeckt mit verschiedenen roten Fahnen. An der Wand stand eine riesige Gipsbüste Lenins. Sein strenges Gesicht schaute über den ganzen Saal, und noch in den hohlen Augen der Gipsplastik lag etwas Beherrschendes, das jeden zwang, den Blick zu senken, als habe Lenin ihn gerade angesprochen. Er, der große Vater der Revolution, der Einiger Rußlands, der Unvergessene, Unsterbliche, die nie versinkende Sonne der Sowjetrepubliken.
Felkanow erspähte drei freie Stühle in der zweiten Stuhlreihe und belegte sie für sich und seine Freunde. »Nahe genug?« flüsterte er.
Abels nickte wortlos. Er starrte auf den Platz, an dem in Kürze Betty Cormick stehen würde. Eine Holzbarriere mit drei Stühlen, kahl, schmucklos, wie ein zusammengezimmerter Käfig. Davor ein Tisch mit einem Flechtstuhl. Hier saß der Verteidiger, ein Mann mit dem Auftrag, am Ende zu sagen: »Betty Cormick, wir haben es alle gehört, bekennt sich schuldig. Trotzdem bitte ich um ein mildes Urteil, weil sie eine Frau ist und selbst ein Opfer ihrer kapitalistischen Auftraggeber –«
Pünktlich um neun Uhr wurden die Türen geschlossen. Wer noch draußen war, blieb murrend auf der Straße stehen. Dort übertrugen große Lautsprecher die Verhandlung. Eine Sprechprobe bewies, wie durchschlagend das war. »Genossen!« sagte eine Stimme, und sie gellte aus den Lautsprechern über halb Tschita. »In zehn Minuten beginnt die Verhandlung gegen eine Frau, die des scheußlichsten Verbrechens angeklagt ist: Spionage gegen die UdSSR.«
Auf dem weiten Platz vor dem Parteihaus verstummten die Gespräche. Wenn man auch nichts sah – vor dem geistigen Auge erlebte man gespannt mit, was der Sprecher nüchtern schilderte.
Die Angeklagte wird hereingeführt. Zwei Milizsoldaten setzen sich links und rechts von ihr. Die Kapitalistenknechtin sieht gut aus, eine hübsche Frau. Man erkennt, daß sie gut behandelt worden ist. Sie setzt sich. Ihr Gesicht ist starr wie eine Maske. Der Ankläger, Genosse Frolowski, nimmt Platz. Extra aus Moskau hat man ihn zu uns geschickt. Die Fernsehkameras und die Wochenschauen beginnen zu filmen, ihre Scheinwerfer erhellen den riesigen Saal und tauchen die Angeklagte in gleißendes Licht. Sie blinzelt mit den Augen. Ja, blinzle nur, Amerikanerin, es wird das letzte helle Licht sein, das du siehst. Das Gericht kommt. An der Spitze Generalleutnant Birjukow, in voller Uniform, mit allen Orden. Er ist ›Held der Nation‹, er hat eine Division bei Stalingrad geführt. Nun sitzen sie alle. Es spricht der Genosse Frolowski.
Betty Cormick sah in den Saal mit den vielen hundert Gesichtern. Sie empfand keine Angst. Als man sie von der Datscha abholte, hatte sie geglaubt, man würde sie jetzt foltern und sie zwingen, falsche Aussagen zu machen. Das Gegenteil war der Fall. Man hatte sie höflich
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