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Ein Mädchen aus Torusk

Ein Mädchen aus Torusk

Titel: Ein Mädchen aus Torusk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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soll es sein. Schön blamieren werden sie sich, die dicken Bonzen. Aus Moskau ist extra ein Ankläger gekommen. Was soll man da noch sagen!«
    Mit steifen Beinen kletterte Abels aus dem Schlitten. Aber es war weniger die Kälte, die seine Glieder lähmte, als das Entsetzen, das ihn eisig durchzog. Er half Anuschka aus den Decken und Fellen und sah auch in ihren Augen die große Traurigkeit und den stummen Schmerz. Anfim wischte sich über den vereisten Bart und schneuzte sich.
    »Ein Brief ist da«, sagte er. »Bevor sie das Fräulein abholten, hat sie ihn mir gegeben. Einen dicken Brief. Wenn Nikolai Stepanowitsch wieder hier durchkommt, hat sie gesagt, so gib ihm diesen Umschlag. Vergiß es nicht, lieber Idiot.« Anfim lächelte breit. »Lieber, hat sie gesagt. Es war ein so gutes Fräulein. Und nun machen sie ihr den Prozeß, die Hunde!«
    »Wo ist der Brief?« fragte Abels heiser.
    »Bei mir, im Stall. Unter der Futterkiste. Da sucht ihn keiner. Kommt mit, Freunde.«
    Im Stall war es warm und gemütlich. In einer leeren Pferdebox hatte sich Anfim ein Zimmer eingerichtet. Man braucht wenig am Rande der Taiga, um glücklich zu sein. Ein gutes Lager aus Stroh, ein paar Pferdedecken, eine Petroleumlampe, einen Tisch und zwei Stühle, eine Flasche Wodka, drei Nägel in der Wand, an die man seine Kleidung aufhängt, und einen besonders guten Nagel, an den man ein Bild Lenins hängt – nicht weil er ein schöner Mann war, sondern wegen der Kontrollen von Partei und Politkommissaren, die es als defätistisch ansehen, wenn Lenins strenges Antlitz nicht in jedem Wohnraum die Atmosphäre von gutem Kommunismus verbreitet. Auch Anfim hatte Lenin über der ungebrauchten Krippe hängen, aber daneben hing auch ein Abbild einer Ikone, ein aus einer illustrierten Zeitung ausgeschnittenes Buntdruckbild. Die Illustrierte hatte Tasskan einmal aus dem Ausland mitgebracht, und er hatte Anfim das Bild geschenkt. Er hütete es wie seinen Augapfel und betete jeden Abend davor sein Nachtgebet. Er war eben ein alter Mann und nicht mehr umzuerziehen. Kann man einen hundertjährigen Baum umbiegen, Freunde? Na also.
    Abels riß mit zitternden Fingern den großen gelben Umschlag auf, den ihm Anfim unter der Futterkiste hervorholte. Ein Bündel Geldscheine fiel auf das Stroh, und Anuschka bückte sich und sammelte sie auf. Erschüttert las Abels die wenigen Zeilen, das letzte, was von Betty Cormick in dieser Welt übriggeblieben war:
    »Mein lieber Nikolai Stepanowitsch – zum letztenmal rede ich Sie so an. Ich weiß, daß trotz Liebe und dem Willen zum Glück mein Leben auf einer Illusion aufgebaut ist. Es läßt sich nicht geheimhalten, wer ich bin. Dieses Land hört mit den Bäumen und dem Gras, den Tieren und den vorbeiziehenden Wolken. So unheimlich schön es ist, so unheimlich grausam ist es auch. Ich weiß, daß man mich eines Tages abholen wird. Fjodor Konstantinowitsch Alajew, der Gebietskommissar, war noch zweimal hier, und beide Male starrte er mich fragend an und machte dunkle Bemerkungen. Ich weiß, daß er etwas ahnt. Als ich damals absprang, hatte man mir 1.000 Rubel mitgegeben. Ich lege sie Ihnen bei als Wegzehrung in die Freiheit, die es für mich nicht mehr gibt. Werden Sie glücklich, Martin – Sie und Ihre sicherlich wunderschöne Anuschka. Gott (ich führe ihn selten im Mund!) möge Ihnen helfen!
    Ihre Amalja Semperowa, die es nicht mehr gibt, wenn Sie diese Zeilen lesen.«
    »Tausend Rubel«, sagte Anuschka leise. Sie hatte das Geld gezählt, während Abels den Brief las. »Ich habe noch nie soviel Geld auf einmal gesehen, Tinja …«
    »Gelobt sei Jesus Christus!« sagte Anfim, der Knecht, und bekreuzigte sich. »Wie gut war das Fräulein! Und nun werden sie es töten, diese Schweine!«
    »Wo ist Amalja Semperowa jetzt?« rief Abels und zerknüllte den Brief.
    »In Tschita, Nikolai Stepanowitsch.«
    »Seit wann?«
    »Seit drei Wochen.«
    »Und der Prozeß?«
    »Ich weiß es nicht. Niemand ist mehr hierhergekommen, seit man den Herrn auch abgeholt hat. Das große Haus haben sie abgeschlossen, zehn Milizsoldaten, und haben über die Schlösser Papier geklebt und ein Siegel darauf gedrückt. ›Hör zu, du Wanze‹, haben sie zu mir gesagt, ›wenn wir wiederkommen und ein einziges Siegel ist beschädigt, hängen wir dich an der nächsten Tanne auf oder ersäufen dich in der Kloake!‹ So haben sie gesprochen, und seitdem laufe ich jeden Tag dreimal zum Haus und sehe nach, ob alles richtig an seinem Ort ist.«
    Die Nacht

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