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Ein Mädchen aus Torusk

Ein Mädchen aus Torusk

Titel: Ein Mädchen aus Torusk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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sagen dazu: Die Sonne zieht das Brautkleid an. Nach einer alten Sage schläft die Sonne im Winter in einem Brautbett, um im Frühjahr die Natur neu zu gebären.
    »Da, sieh einmal!« sagte Burkja und zeigte vor sich auf die enge Straße. Über einem Felseinschnitt kreisten einige Geier; mit ausgebreiteten Flügeln glitten sie lautlos in weiten Kreisen über das Land.
    Chingai-Butu, der Bauer, hielt den Ochsen an und starrte.
    »Da liegt was«, sagte er nach einigem Überlegen. »Fahren wir mal hin.«
    Rumpelnd und über die Steine hüpfend fuhren sie ein Stück seitlich in einen Hohlweg. Und dann schrie Burkja leise auf, und auch Chingai-Butu war es nicht geheuer.
    Zwischen den Steinen lag ein fremder Mensch. Ein Europäer. Ein weißer Mann mit zerrissenen Kleidern. Er lag mit dem Kopf auf einem Stein, starrte in die Höhe zu den kreisenden Geiern und war zu schwach, um wegzukriechen. Nun, da andere Menschen kamen, kreischten die Geier auf, flatterten und setzten sich dann rund um die liegende Gestalt auf die Felsen. Stumme Wächter vor einem Körper, der bald zu Aas werden würde.
    Martin Abels hatte es schon am dritten Tag gespürt. Es begann mit einer Kälte, die durch alle Adern flutete. Ihr folgte eine Hitze, die ihn fast zerriß. Dann wurde er schlaff, fühlte sich ausgelaugt und lag einen Tag in der Sonne, wehrlos und außerstande, auch nur zu kriechen. Er hatte Durst, seine Zunge brannte und wurde dick, seine Glieder begannen zu zucken, er spürte, wie Ameisen über ihn hinwegkrochen, wie sie ihn bissen, das Blut aus den Wunden saugten, und er hatte keine Kraft mehr, sich wegzuwälzen.
    Dann wurde es wieder besser … er konnte wieder gehen, badete in einem Fluß, fühlte sich erfrischt und wie neu belebt. Aber am Abend brach er wieder zusammen, Fieber überfiel ihn, er schleppte sich von der Straße weg in einen Hohlweg und fiel erst in die Knie, dann auf den Rücken. Er wurde besinnungslos und wußte nicht, wie lange er gelegen hatte, als er wieder die Augen aufschlug. Er sah die Geier über sich kreisen, blickte in ihre starren grünen Augen, hörte das Klappern ihrer gebogenen, spitzen Schnäbel, die ihn zerreißen würden … heute oder morgen … Er versuchte sich zu bewegen. Es ging nicht, er war wie gelähmt. Nur denken konnte er noch – so sehr sein Körper auch versagte, sein Geist war hellwach.
    Das ist ein frühes Ende, ging es ihm durch den Kopf. Ein unrühmliches Ende. Geierfraß. Daran haben sie alle nicht gedacht, nicht Petermann, nicht Fernholz. Nicht einmal der Handelsattaché in Tokio; Sie haben in der Mongolei keinen rechtlichen Schutz, hatte er gesagt. Rechtlicher Schutz gegen Geier … mein lieber Mann, wie naiv wir alle sind. Wir sind daumenlutschende Kinder vor der Wucht der Tatsachen. Wir sind ahnungslose Säuglinge vor der erschreckenden Wahrheit.
    Er schloß die Augen und hielt den Atem an.
    Kommt doch, dachte er. Ihr verdammten, ihr verfluchten Geier. Kommt doch endlich! Ich weiß, ihr freßt nur Aas … bin ich denn jetzt noch etwas anderes? Nur weil ich atme? Das ist bloß das Herz, ihr Geier, mein gutes, starkes Herz. Es schlägt und schlägt und schlägt – aber der Körper drumherum ist schon tot. Ich hätte nicht einmal mehr die Kraft zu schreien, wenn ihr mich auseinanderreißt.
    Er fiel wieder in Ohnmacht, aber nicht aus Schwäche, sondern aus aufzuckender Angst und grellem Grauen, weil er plötzlich eine Berührung an seinem Körper spürte. Die Geier, schrie es in ihm. Jetzt sind sie da … ihre Schnäbel … ihre spitzen Schnäbel … in meinem Leib … in meinen Eingeweiden … O Gott … Gott … Gott.
    Das Mädchen Burkja und ihr Vater, der Reisbauer Chingai-Butu, hoben den fremden weißen Mann aus den Steinen und trugen ihn zu ihrem Ochsenkarren. Dort gab Burkja dem Ohnmächtigen zu trinken. Sie preßte seine Zähne auseinander, setzte einen Wasserbeutel an seine Lippen und preßte die Flüssigkeit in seine Mundhöhle. Martin Abels schluckte mit hüpfendem Kehlkopf, das Wasser lief ihm aus dem Mund wieder heraus und über die Brust … aber er atmete plötzlich tief auf, seufzte und starrte in das breite, lächelnde Gesicht des Mädchens.
    »Er lebt, Väterchen«, sagte Burkja und breitete eine Decke über Abels. Eine wohlige Wärme durchflutete ihn. Er streckte sich in dem Stroh des Karrens aus, fühlte eine gesunde Müdigkeit, aber er wehrte sich dagegen, wieder ins Dunkle abzugleiten, und sah das mongolische Mädchen an, das ihm mit ihren Händen das Gesicht

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