Ein Mädchen aus Torusk
Zeiten Kublai-Khans und Dschingis-Khans sind vorbei. Unsere Sorge ist es, wie wir dieses schöne Land erschließen können, mit eigenen Mitteln, ohne Schulden, mit unserer Kraft. Seit Jahrhunderten leben wir im Schatten der anderen, wie der Inhalt einer geballten Faust, die aus Rußland und China besteht. Wir werden Ihnen in den nächsten Tagen vieles zeigen.«
Nach zwei Stunden wurde Martin Abels in das Gästehaus der Regierung von Ulan-Bator gefahren. Es lag am Tolofluß, glich einem modernen Hotel und stand doch unter der Bewachung mongolischer Truppen. Martin merkte es, als er die Hotelhalle verlassen und durch Ulan-Bator spazieren wollte. Ein Offizier trat höflich auf ihn zu und gab ihm einen Begleiter mit. Zum Schutz gegen Bettler und Gaukler, wie er sagte.
Abels verzichtete auf den Spaziergang und ging zurück auf sein Zimmer.
In der Nacht verließ er das Hotel. In zwei Säcke, die er an Lederriemen um seinen Hals hängte, stopfte er seine Hemden und Unterwäsche, sein Geld, das er in Japan in Rubel eingewechselt hatte und aus 2.400 Rubel bestand, einen Plan von Sibirien, einen Kompaß und eine Taschenlampe mit zehn Ersatzbatterien. Über drei Balkone erreichte er den Hof, in dem der Abfall des Hotels verrottete und wo sich nachts die Ratten balgten. Von hier aus kletterte er über die Mauer und stand dann auf einem schmalen Fußpfad am Ufer des Tolo.
Über dem Kentai-Gebirge glänzte ein herrlicher blasser Mond. Martin Abels kannte diese Monde; sie kündeten Kälte an, Schneefall, Eis. Ist es schon soweit, dachte er, als er den Tolo entlangschlich und sich zu den Wohnbooten wandte, die breit und dunkel am Ufer schaukelten. Der Winter kam dieses Jahr früher, als er es berechnet hatte. Über Nordsibirien fegten schon die Eisstürme. Die Lena und der Jenissei vereisten von der Mündung her. Aus dem Norden zogen jetzt die Wölfe in das mittelsibirische Bergland, Rudel mit hechelndem Atem und heraushängender blutroter Zunge.
Ein Boot aus Rinden und Geflecht, das lose am Ufer lag, war gerade das Richtige, was Abels suchte. Er stieß vom Ufer ab und ruderte lautlos den Fluß hinab. Eine ganze Strecke ließ er sich treiben, stieß ein paarmal an Sandbänken an oder mußte Klippen im Tolo umgehen. Beim Morgendämmern hielt er auf das Ufer zu, stieß das Boot in den Fluß zurück, als er an Land war, und sah dem kleinen Fahrzeug nach, wie es weiter mit den kalten Wassern abwärts hüpfte, sich um sich selbst drehte wie ein tanzendes Mädchen.
Erst um 10 Uhr am anderen Morgen wurde die Flucht Martin Abels aus dem Hotel bemerkt. Der wachhabende Offizier brach zusammen. Für ihn hatte das Leben aufgehört. Das Wort Gnade war selten in der mongolischen Sprache. General Gadan-Dalain schickte hundert Reiter in alle Winde, drei Hubschrauber durchkämmten das Bergland von Ulan-Bator.
Martin Abels fand man nicht. Er lag in einer Höhle und schlief. Die Erfahrungen aus seinen Fluchtversuchen in Sibirien kehrten in seine Erinnerung zurück und erwiesen sich noch immer als brauchbar. Er wanderte nur des Nachts, denn nachts schliefen die Mongolen. Noch immer saß der Dämonenglaube in ihren Herzen und war durch die neue Lehre des Kommunismus nicht zu verscheuchen. Man gab sich furchtlos … aber wenn es dunkel wurde, verriegelte man die Türen oder hängte die Felle vor die Jurteneingänge.
Der große Weg nach Norden hatte begonnen.
Zweitausenddreihundert Kilometer lagen nun vor ihm bis nach Torusk. Zweitausenddreihundert Kilometer durch Steppe und Gebirge, durch Eis und Sturm, durch Wildflüsse und Wüste, durch Urwald und Sumpf. Zweitausenddreihundert Kilometer an hungernden Wölfen und Bären vorbei und an Soldatenstreifen, die ihn jagten. Und das alles in einer Einsamkeit, die wahnsinnig machte.
Es war der Weg zu Anuschka.
*
Am siebten Tage nach Martin Abels' Flucht aus Ulan-Bator befuhr der mongolische Reisbauer Chingai-Butu mit seinem Ochsenkarren die Höhenwege des Bugun -Schara-Gebirges. Seine Tochter Burkja war bei ihm, ein süßes, etwas molliges Mädchen von sechzehn Jahren, mit langen schwarzen Zöpfen, einem runden Gesicht und immer lachenden Augen. Sie wollten hinunter nach Banga fahren, um Stricke zu kaufen, Lederriemen, Salz und große Nadeln, damit Burkja in den langen Wintermonaten nähen konnte. Mäntel, Kleider, Blusen, Sommerschuhe. Es gab so vieles, was bereits verschlissen war.
Es war ein heller Tag, schon etwas kalt, die Sonne war nicht mehr golden, sondern weiß; die mongolischen Bauern
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