Ein Mädchen aus Torusk
Füße mit den Schneeschuhen angezogen, stand dann wieder auf und lief auf sie zu.
Amalja sah die auf sie zurennende Gestalt und schloß die Augen. Sie kniete im Schnee, und es war ihr gleichgültig, was jetzt mit ihr geschah. Sie können mich erschießen, dachte sie. Sie können mich foltern, in ein Bergwerk stecken, vergewaltigen, mit Peitschen schlagen … es ist alles besser, als noch einen Tag in dieser eisigen Hölle zu leben. Überall wird Wärme sein, im schaurigsten Gefängnis sogar … Wärme, o Wärme …
Sie sah auf, als Abels neben ihr stand. Mit beiden Händen griff er unter ihre Achseln, hob sie aus dem Schnee und stützte sie. Ihr Kopf fiel müde und willenlos gegen seine Brust, ihr vereistes, starres schwarzes Haar knirschte, die Kristalle an ihrem Gesicht splitterten ab.
»Wo kommen Sie denn her, Genossin?« rief Abels und preßte sie an sich. Sie ist ja wie ein Eisklumpen, dachte er erschrocken. Wie kann sie überhaupt noch laufen? Bei jedem Schritt müssen doch ihre Knochen brechen wie morsches Holz.
Amalja antwortete nicht. Sie sank plötzlich zusammen und hing in den Armen Martins. Ihr Kopf fiel nach hinten. Schnell legte Abels seine Hand in ihren Nacken. Er hatte Angst, er würde abbrechen.
»Lassen Sie mich an einem warmen Ofen sterben«, flüsterte Amalja. »Bitte!« Und sie sprach englisch, ohne es zu merken. Sie war wieder wie ein Kind, das sich nach Geborgenheit sehnte. Wie warm waren die Sommer in der Prärie, dachte sie und spürte nicht, wie Abels sie fast trug, wie er sich mühte, mit ihr den Hang wieder zu erklettern, hinaufzukommen zu seiner Kiste und zu der Feldflasche mit dem heißen Tee.
Dann endlich waren sie oben, er preßte ihr das Mundstück zwischen die Zähne und zwang sie, ein paar Schlucke zu trinken. Sie schluckte, hustete, krümmte sich dabei, als zerspränge ihr Leib und klammerte sich an Abels fest.
»Danke!« keuchte sie, und jetzt sprach sie wieder russisch. »Danke, Brüderchen.«
Sie sah Abels aus flatternden Augen an, krallte sich in seine Jacke fest und wurde ohnmächtig. Er konnte sie geistesgegenwärtig auffangen, bevor sie in den Schnee stürzte.
Sie hat englisch gesprochen, dachte er, als er sie in den Schnee legte und ihren Kopf gegen die Kiste lehnte. Und sie spricht russisch, wie es die Art der Ukrainer ist. Und sie kommt aus dem Nichts, aus einer urweltlichen Wildnis.
Es waren Rätsel genug, und es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als sich neben sie zu setzen und zu warten, bis sie aus ihrer Ohnmacht erwachte. Er rieb ihr Gesicht vorsichtig mit Schnee ab und deckte einen Lappen aus Filz darüber, mit dem er sonst die empfindlichen Meßinstrumente schützte. Als sie sich regte, nahm er den Filz wieder weg und sah in ihre großen, fragenden Augen.
Er lächelte ihr zu, ermutigend, freundlich, soweit man das so nennen konnte, was sich in seinem struppigen Gesicht vollzog. Denn wie alle Arbeiter bei der Eisenbahn rasierte sich auch Abels nur einmal in der Woche. Er hatte das schnell entdeckt, und um nicht unliebsam als Schönheitsfanatiker aufzufallen, machte er es mit. Zudem wärmt ein Bart, sagt man. Nicht umsonst haben die Tiere Felle, sogar die Affen. Und vom Affen sollen wir abstammen, na also!
»Wieder da?« fragte er russisch. »Wer verläuft sich auch in der Wildnis, Täubchen?«
Amalja Semperowa setzte sich und rieb sich die Backenknochen. Dabei schielte sie zu Abels hinauf und griff dann nach der Feldflasche. Sie trank ein paar tiefe Züge, und sie hustete nicht einmal wegen des scharfen Schnapses, der den Tee veredelte. »Habe ich etwas Dummes gesagt?« fragte sie vorsichtig. Dabei hob sie den schönen, schmalen Kopf und versuchte ebenfalls zu lächeln.
»Ja.« Abels sprach dieses Wort plötzlich auf englisch, und durch den Körper Amaljas fuhr es wie ein Schlag. Sie wollte aufspringen, aber die Hand Abels' drückte sie in den Schnee zurück. »Aber haben Sie keine Sorge. Wenn ich ein Russe wäre, würde ich mich wundern …«
»Sie … Sie sind kein Russe?«
»Nein, ich bin Deutscher!«
»In russischen Diensten?«
»Im Augenblick, ja.« Abels setzte sich neben Amalja auf die Holzkiste und holte aus seinem Verpflegungsbeutel Speck und Brot. »Mögen Sie?«
»Nein, danke.« Sie schüttelte den Kopf. »Mir steht es bis hierhin.« Sie zeigte mit der flachen Hand bis unter das Kinn und würgte. »Was nun?«
»Wieso, was nun?«
»Was machen Sie mit mir? Sie übergeben mich der Polizei, nicht wahr?«
»Sehe ich so aus?« Abels
Weitere Kostenlose Bücher