Ein Mädchen aus Torusk
sagen brachte er aber nicht übers Herz. Er spürte, wie sie diesen Abels noch immer liebte, auch wenn sie vielleicht verstandesmäßig einsah, daß es eine sinnlose Liebe war.
Und das war das einzige, was der Reeder Holgerson nicht nachvollziehen konnte. Wenn etwas vorbei ist, sollte man sich damit abfinden. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen, und man kann Tatsachen nicht mit Wunschträumen umkleiden und verfälschen. Realitäten sind da, daß man sich mit ihnen auseinandersetzt. Nach diesem Prinzip war Holgerson Millionär geworden. Daß seine Tochter Inken so romantisch war, einer verlorenen Liebe nachzutrauern und zu hoffen, wo es nichts mehr zu hoffen gab, erschütterte ihn am meisten. Die neue Jugend ist doch nicht so illusionslos, wie sie sich gibt, dachte er. Sie verkapselt die Ideale nur. Wir schrieben früher dumme Gedichte in Poesie-Alben – die neue Generation trägt die gleichen Gefühle im Herzen und spricht nur nicht darüber. Im Grunde ist alles geblieben wie früher.
Der Bericht des Holgerson-Vertreters aus Tokio war unbedeutend. Er übermittelte Tatsachen, die längst bekannt waren. Nur ein Satz war da, den Holgerson immer wieder las, weil er nicht in das Bild paßte, das er sich zurechtgelegt hatte.
Auf dem Markt von Banga, das hatte der Vertreter über verschiedene asiatische Informanten erfahren, waren Kleider eines Europäers verkauft worden. Die mongolische Polizei hatte sie sofort beschlagnahmt, aber es war nicht mehr zu entdecken, woher sie kamen, wer sie auf den Markt gebracht hatte. Es hieß, ein Bauer sei's gewesen. Wie aber sollte man jemals diesen Bauern finden?
Die Kleider waren unversehrt, nicht blutbefleckt, nur schmutzig. Es war eine vollkommene europäische Herrenausstattung, mit deutschen Einnähetiketten und einer Einwechselbescheinigung der Staatsbank Tokio: Dollar gegen Rubel.
Kein Zweifel: Es war die Kleidung Martin Abels'.
Inken Holgerson bekam einen Nervenschock und weinte. »Sie haben ihn beraubt und dann getötet!« rief sie immer wieder. »Jetzt weiß ich, daß er nicht mehr zurückkommt! O hätten wir doch nie, nie nachgefragt!«
Auch das war wieder eine jener Unlogiken, die Holgerson an seiner Tochter nicht verstand. Gut, Martin Abels kam nicht wieder. Kein Mann läßt sich freiwillig seine Kleidung ausziehen und läuft nackt herum. Daß niemand wußte, woher die Sachen des Europäers kamen, verdichtete den Verdacht, daß er – wie Inken richtig spürte – beraubt worden war. Aber nun war damit eine Tatsache geschaffen, die man hinnehmen mußte. Was konnte man mehr tun?
So tragisch das Ende Martin Abels' war – es schuf die Basis für ein weiteres, ein anderes Leben Inkens. Ein Warten war sinnlos geworden. Man konnte ein paar Wochen oder auch Monate still trauern, aber dann ging das Leben weiter. Reeder Holgerson nahm die Pläne wieder auf, die er bei dem Wegzug Inkens in die Schublade eingeschlossen hatte. Pietät ist notwendig, dachte er. Aber auch die Geschäfte gehen weiter. Wenn Inken den Sohn des Exporteurs Fahrenkrug heiratet, sind mindestens drei meiner Schiffe für alle Zeiten ausgelastet mit Fracht. Die Reederei Holgerson liegt nicht in der Mongolei, sondern in Bremen. Und die Schiffe mit den gelbblauen Fahnen der Holgersons wollen Fracht haben und in alle Welt fahren.
Nachdem sich Inken etwas beruhigt hatte, schenkte Holgerson seiner Tochter ein neues Abendkleid und einen märchenhaften Halsschmuck aus Rubinen.
»In vierzehn Tagen ist ein Ball im Parkhaus«, meinte er ganz beiläufig, als Inken in stummer Bewunderung vor dem Schmucketui stand. »Es wäre sehr schön, wenn du mir den Gefallen tun würdest, diesen Schmuck dann zu tragen.«
Inken verstand. Sie nickte stumm, aber in ihren Augen lag die Einsamkeit unsterblicher Trauer.
*
Der Ingenieur der BAM, Michail Jefimowitsch Duganoff, war ein dicker Mann. Das mußte er sein, denn er war ein großer Natschalnik, und je höher ein Mann über den anderen steht, um so dicker bläht sich sein Bauch. Ein kleiner, dürrer, mieser Natschalnik – ich bitte euch, Genossen, wer kann vor ihm Achtung haben? Aber wenn er in ein Zimmer kommt und füllt die Tür aus, und seine Stimme ist wie das Donnerrollen, o ja, dann hebt man den Hintern vom Stuhl und sagt freundlich: »Was ist gefällig, Genosse?«
So einer war auch Michail Jefimowitsch, der Ingenieur. Er hauste in einer feudalen, doppelwandigen Baracke, denn er brauchte viel Wärme, weil er zeichnete. Jeden Tag stand er stundenlang an einem
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