Ein Mädchen aus Torusk
der Nähe des Güterplatzes. Es war ein Haus wie Hunderte in Tygdinsk. Außen Rundstämme, innen Bretterwände, dazwischen Lehm und Glaswatte als Kälteschutz. Eine ganze Zimmerwand nahm der große Ofen ein, auf dessen Plattform die ganze Familie schlief, wenn es draußen unter 20 Grad kalt wurde und die Stürme gegen die kleinen, verklebten Fenster prallten. Dann lagen sie schön säuberlich nebeneinander auf der heißen Lehmplatte: Stepan, seine Frau Njuschka und die Kinder – das Kleinste neben der Mutter und dann die anderen, aufsteigend bis zum Ältesten, der ganz am Rand lag und im Laufe eines Winters durchschnittlich siebzehnmal vom Ofen auf die Bank fiel und dann mörderisch brüllte.
Stepan Michailowitsch hatte einen strammen Dienst. Dreimal in der Woche fuhr er zwischen Tygdinsk und Tschita hin und her und rangierte oder bremste. Zweimal in der Woche hatte er Stapeldienst und wuchtete Stämme und Bretter auf dem Güterplatz aufeinander. Und nur einmal die Woche hatte er einen freien Tag. Den verbrachte er auf dem Rücken liegend in wohlverdienter Ruhe und Zufriedenheit, ließ sich von seiner Njuschka verwöhnen mit Essen, mit Trinken und auch sonst, wir verstehen uns, Freundchen, und blinzeln ein bißchen mit den Augen voll Verständnis. So kam es, daß Njuschka jedes Jahr guter Hoffnung war. Nur eine Reihe von Fehlgeburten verhinderte es, daß Stepans Haus zu klein wurde. Immer, wenn der Winter kam und die Familie auf den Ofen zog, begann Njuschka zu seufzen und gab der Hebamme schon im voraus ein Trinkgeld, denn mit solchen Frauen muß man sich gut stellen. Stepan aber fühlte sich wohl. Wer wußte noch, daß er einmal Stefan Feldmann geheißen hatte, aus Bückeburg stammte und gelernter Schuhmacher war? Als 1941 der Gefreite Feldmann in Gefangenschaft geriet, endete auch sein deutsches Leben. Jetzt war er so vollkommen Stepan Michailowitsch Felkanow, daß er sogar die deutsche Sprache nicht mehr konnte und erst aus dem Russischen übersetzen mußte, so, wie man es mit der Muttersprache macht, wenn man etwas in einer fremden Sprache sagen will.
Njuschka war eine liebe Frau, die Kinder waren wohlerzogen, das Einkommen als Bremser war verhältnismäßig gut, zumal Stepan noch im Chor der Partei mitsang und als Aktivist Sonderzuteilungen erhielt, vor allem an Schnaps und Butter. Das war ein großer Vorteil, denn Schnaps belebte und Butter gab Kraft – zwei Dinge, die Stepan in den langen Wintermonaten nötig hatte und die Njuschka in Bewegung hielten. Außerdem war Stepan ein Halunke. Wer ist das nicht, Genossen, wenn man als Bremser und Rangierer an alles herankommt, was so mit der Eisenbahn befördert wird? Wie oft platzt eine Kiste auf oder ein Karton oder ein Paket? Soll man die Ware im Schnee verkommen lassen? Soll das Volksvermögen so in der Nässe verfaulen? Ich bitte! Es ist die Pflicht eines guten Bolschewiken, Wertvolles vor dem Zerfall zu retten! Also platzte bei Stepan ab und zu ein Kistchen oder ein Karton, und immer waren es lebensnotwendige Dinge, die er rettete. Seine größte Rettungstat war die Rettung einer Kiste voller Porzellan. Er schleppte sie nach Hause, schwitzend unter der Last des vor der Zerstörung bewahrten Volksvermögens. Vom Verkauf des Geschirres und durch Kompensation konnte er sich eine Kuh anschaffen und eine Buttermaschine. Von da an galten die Felkanows unter ihresgleichen als wohlhabend, und Njuschka wurde beneidet. Ein Mann, der pausenlos Liebhaber ist und trotzdem noch Zeit hat, seiner Familie Wohlstand zu verschaffen, ich frage, Freunde: Wo findet man das so schnell wieder zwischen Tschita und Tygdinsk?
Stepan war zu Hause, als Abels klopfte und in die heiße Stube trat. Aus seinem Pelz dampfte sofort die Feuchtigkeit, das Eis an den Haaren schmolz und tropfte auf die rohen Dielen.
Stepan saß auf dem Ofen, rieb die nackten Füße gegeneinander und starrte auf den großen, abschmelzenden Mann. Dann erkannte er hinter dem Mann die zarte Gestalt eines Mädchens, und das wirkte auf ihn elektrisierend. Er sprang vom Ofen, brüllte drei Kinder, die ihm nachspringen wollten, an: »Oben bleiben!« und verbeugte sich.
»Was führt Sie zu mir, Genossen?« fragte er. Dann erkannte er plötzlich Abels, und sein Gesicht wurde schreckhaft; er schien durchaus nicht erfreut. Er sah sich um nach Njuschka, die am Herd stand und eine Suppe aus getrocknetem Fisch kochte. Sie rieb sich die Hände am Rock und starrte auf die beiden Fremden. Sie war bleich und erbrach sich seit
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