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Ein Mädchen aus Torusk

Ein Mädchen aus Torusk

Titel: Ein Mädchen aus Torusk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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schnitt ein Stück Speck ab und reichte es ihr, auf die Messerspitze gepiekt, hin. »Essen Sie!«
    »Nein!«
    »Sie müssen! Sie sehen aus, als hätten Sie tagelang wie ein verwilderter Hund gelebt.«
    »Schlimmer. Viel schlimmer.« Amalja nahm das Stück Speck, steckte es in den Mund und würgte und lutschte daran herum, als sei ihre Speiseröhre zusammengeschrumpft. »Sie … Sie fragen mich gar nicht …«, sagte sie endlich.
    »Warum? Sie werden es mir auch so sagen.« Martin Abels deckte ein Tuch über seinen wertvollen Theodoliten und trank auch einen Schluck Tee. »Doch bevor Sie beichten: Ich bin, genau wie Sie, illegal in Rußland. Ich lebe jetzt zwar in Tygdinsk und arbeite bei der Eisenbahn, aber ich bin, wie Sie, ein Eindringling. Man nennt mich hier Nikolai Stepanowitsch Arkadjef, aber ich heiße wirklich Martin Abels.«
    »Ich heiße Betty Cormick und nenne mich Amalja Semperowa.« Sie zögerte, aber dann schien es, als habe sie Vertrauen gefaßt. »Ich bin mit einem Fallschirm abgesetzt worden.«
    »Agentin?«
    »Ja.«
    Abels schwieg. O Gott, dachte er nur. Wenn die Soldaten sie ergreifen. Der Tod ist nicht das Schlimmste, er wird nur eine Erlösung sein. Aber was mit ihr geschieht, bevor sie stirbt, ist nicht auszusprechen.
    Amalja beobachtete ihn. Es schien, als könne sie seine Gedanken unter der pelzmützengeschützten Stirn lesen.
    »Ich weiß«, sagte sie leise. »Ich habe kaum noch eine Chance. Ich bin auch am Ende. Nur erfrieren wollte ich nicht.«
    »Es wäre gnädiger gewesen, Miß Cormick.«
    »Sagen Sie Amalja.« Sie hob die Schultern. »Spielen wir bis zuletzt Theater. Ich nenne Sie auch Nikolai.«
    »Haben Sie den Unterleutnant getötet?« fragte er plötzlich.
    Sie zögerte keinen Augenblick und nickte.
    »Ja. Er wollte einen Paß sehen.« Plötzlich schlug sie die Hände vor die Augen und schwankte im Sitzen. »Es war furchtbar. Er war der erste Mensch, den ich tötete. Bei der Ausbildung, da war alles so einfach. Da haben wir auf Männer aus Pappe und Holz geschossen. Die schrien nicht, die hatten keine Augen, die vor dem Brechen fragten: Warum hast du das getan? Die hatten keinen Mund, der aufriß, und keine Finger, die sich in den Schnee krallten. Die fielen einfach um, und Major Hopkins sagte: Brav, Mädchen, das hat hingelangt! Du schießt wie ein alter FBI-Knaller! – Ich habe nie geglaubt, daß ich es jemals brauchen würde. Und dann stand er plötzlich da, der Junge, und ich mußte …« Sie ließ die Hände fallen und starrte Abels aus weiten, brennenden Augen an. »Ich glaube, ich bin gezeichnet für mein ganzes Leben!« sagte sie leise.
    Abels schwieg. Er dachte an die Minuten im Bremserhäuschen des Holzzuges von Tschita und an den ahnungslosen Stepan Michailowitsch Felkanow, den Vater von sechs Kindern, der auf dem Trittbrett gestanden hatte, einen Meter vom Tod entfernt. Jetzt, wo alles zurücklag, wußte er nicht, ob er wirklich mit dem mongolischen Dolch zugestoßen hätte, wenn nicht der Aufschrei Stepans, sein Aufschrei in deutscher Sprache, ihn zurückgeworfen hätte. Ich glaube, ich hätte ihn töten müssen, dachte er und schauderte bei diesem Gedanken. Man fragt in solcher Lage nicht mehr nach Menschlichkeit und Recht und Moral. Man will überleben, weiter nichts.
    »Gehen wir!« sagte er laut. Amalja zuckte zusammen.
    »Wohin denn?«
    »Zu einem Freund.« Der Gedanke war Abels gekommen, als er an Stepan dachte. Es gab nur eine Möglichkeit, Amalja zu verbergen, und das war das Haus Felkanows. Weiter wußte er auch nichts. Was kommen würde, was mit Amalja geschehen sollte, ob sie weiterziehen sollte im Frühjahr oder ob sie Kontakte zu Mittelsmännern hatte, das zu fragen war jetzt völlig sinnlos. Es kam darauf an, daß niemand sie durchschaute. In drei Wochen wollte er weiterziehen nach Norden, hinauf zur Lena und von dort nach Torusk. Wenn Felkanow ein guter Kerl war, würde er im Frühjahr Amalja mit nach Tschita nehmen und dafür sorgen, daß sie über die Mongolei wieder in die Freiheit kam. Den gleichen Weg, den er genommen hatte, nur zurück.
    »Ist er wirklich ein Freund?« fragte Amalja.
    »Ich glaube es. Ich kenne ihn kaum.«
    »Und trotzdem …«
    »Ich wollte ihn töten – und dann stellte sich heraus, daß er ein Deutscher wie ich war. Nur einer, der Russe geworden ist, einer Frau und sechs Kindern wegen.«
    »Und wenn er mich ausliefert?«
    »Wir werden sehen.« Abels stützte Amalja, als sie sich aufrichtete, und klopfte ihr die Kleidung vom

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