Ein Mädchen aus Torusk
grünes Hemd hoch und drückte auf den prall gespannten Leib. Der Mann wimmerte laut, schloß die Augen und ballte die Fäuste. Er war ein dünner, schmächtiger, halb verhungerter Mensch, und als Abels ihn genau ansah, erkannte er, daß das grüne Hemd Bestandteil einer Lagerkleiderkammer war.
Plötzlich fiel ihm ein Buch ein, das er einmal gelesen hatte. An Bord eines Robbenfängers hatte ein Matrose ebenfalls eine akute Blinddarmentzündung bekommen, und bis man eine Station anlief und er operiert werden konnte, hatte man seinen Leib mit Eis belegt. Und so machte es jetzt auch Abels. Er schaufelte mit beiden Händen den verharschten Schnee, knetete ihn zu einem Ballen und legte ihn auf den gespannten, trommelartigen Bauch. Er verstand nicht viel von Medizin oder Sanitätswesen, er hatte sich nur um seine Fabriken und um Kugellager gekümmert – aber längst vergessene Situationen aus dem Krieg wurden plötzlich wach. Da durch die Körperwärme und das Fieber der Schneeballen schnell schmolz, packte er weiterhin einige Hände voll auf den Leib und sah, wie der Mann sich streckte, wie es ihm guttat und wie seine Augen sich schlossen und der Atem leiser wurde. Er war ohnmächtig geworden.
Eine akute Blinddarmentzündung, ein bereits so dick aufgetriebener Leib bedeutete in dieser sibirischen Einsamkeit den sicheren Tod. Der nächste Arzt saß vielleicht auf der Faktorei Jenjuka, aber die war noch hundert Kilometer weit entfernt. Hier, in diesem Waldstück, gab es nichts als Wildnis, und ein Kreuz aus sturmgebogenen Ästen, wenn die Qual des Fremden zu Ende war.
»Was nun?« fragte Abels und sah dabei Akja, seinen Hund, an. »Nehmen wir ihn mit?«
Es war ein Entschluß, der ebenfalls nicht weiter führte als eine Wegstrecke ins Nichts. Aber Abels widerstrebte es, einen Sterbenden einfach liegenzulassen. Er ist ein Mensch, dachte er. Er hatte einmal Vater und Mutter, vielleicht hat er auch eine Frau und Kinder. Er hat beten gelernt und ist auf seinen Beinen dreißig oder vierzig Jahre über diese Erde gestampft. Wie alt er ist … man kann es nicht mehr feststellen. Wer durch Sibirien irrt, verliert sein natürliches Gesicht. Er wird wild und zeitlos wie die Bäume der Taiga.
Abels bückte sich, schob die Arme unter den Körper und versuchte, ihn hochzuheben. Er war leichter, als er gedacht hatte; er ließ sich hochnehmen wie ein Kind. Taumelnd, den Pfotenspuren des Hundes nach, der wieder vorauslief, kehrte Abels mit seiner Last zum Schlitten zurück, legte den Todkranken in die Decken, breitete das Fell über ihn, sprang auf den Bock und zog die Zügel an.
Wohin, dachte er. Eine dumme Frage eigentlich. Geradeaus, wie immer. Irgendwohin. Immer nach Norden. Zur Lena. Zur Faktorei Jenjuka, wenn es möglich ist. Aber dort sind die staatlichen Aufkäufer, dort ist eine Kompanie Miliz stationiert, dort ist das Auge Moskaus, wie überall, wo es einen Natschalnik oder einen Dorfsowjet gibt.
Das Pferd trottete weiter durch den Schnee, über eine Hochebene, hinunter in ein Tal, durch das ein jetzt vereister Wildbach floß. Und hier, zwischen den Wipfeln des Waldes, sah Abels eine dünne, helle Rauchfahne in den Himmel steigen. Auch Akja witterte sie. Er spitzte die Ohren und raunzte. Das Panjepferdchen fiel in einen leichten Trab. Leben, Menschen, Wärme … es war wie ein Magnet, der sie hinunterzog ins Tal. Es dauerte noch eine Stunde, ehe sie durch den Wald glitten und Stimmen hörten. Abels hielt den Schlitten an und blickte zurück zu dem Kranken. Er war noch immer besinnungslos, sein Gesicht war wie aufgeblasen.
Akja an seiner Seite, stapfte Abels den Stimmen und dem Feuer entgegen. Er fand eine Gruppe von fünf Jägern, riesige, in Pelze gehüllte Gestalten, die an einem Spieß ein halbes Ren brieten und Wodka aus Kunststoffbechern tranken. Abels zögerte. Er stand hinter einem dicken Baum und sah zu den Männern hinüber. Es waren breitgesichtige Jakuten, rauhe Kerle, die weder Sturm noch Frost fürchten und im harten Winter Hunderte Kilometer durch Sibirien ziehen, um die Hermeline, die Zobel und die seltenen sibirischen Tiger zu erlegen.
Abels wagte es. Er trat hinter seinem Baum hervor, und Akja gab einen klagenden Wolfslaut von sich. Die Jäger drehten die Köpfe. Da es ein Mensch war, der aus dem Wald an ihr Lager trat, erschraken sie nicht. Sie winkten, einer von ihnen kam Abels entgegen, zwei drehten weiter den Spieß mit dem halben Ren.
»Gott mit euch, Brüder!« sagte Abels. »Ich bin glücklich,
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