Ein Mädchen aus Torusk
Semperowa war zurückgeblieben und reichte Abels beide Hände, als er auf dem Schlittenbock saß und Akja, der Wolfshund, neben ihm auf den Sitz sprang.
»Alles, alles Gute!« sagte Amalja. Da sie allein waren, sprachen sie englisch. »Und –«, sie stockte, »denken Sie nicht zu schlecht von mir, Martin.«
»Es blieb Ihnen keine andere Wahl, Betty. Außerdem lieben Sie Tasskan wirklich.«
»Ja. Ich hätte es nie für möglich gehalten. Einen Russen!«
»So kann man sich irren.« Abels lachte und beugte sich vom Bock. Er küßte Amalja auf die Stirn und schlug über sie das Kreuz, wie es die alten Bäuerinnen tun, wenn ihre Söhne wegziehen aus dem Dorf in die Stadt, um etwas Besseres zu werden als Muschik. »Werden Sie glücklich, Betty.«
»Ich bin es schon.«
»Um so besser.« Sie gaben sich noch einmal die Hände und hielten sie eine Zeitlang fest. Sie wußten, jeder von ihnen, daß es ein Abschied für immer war. Ihre Lebensbahnen hatten sich gekreuzt, waren eine kurze Zeit gemeinsam verlaufen, trennten sich jetzt – so, wie sich im Weltall zwei Sternschnuppen begegnen und dann weit voneinander entfernt wieder irgendwo verglühen.
»Grüßen Sie Anuschka«, sagte Amalja leise. »Sie soll so glücklich werden wie ich.«
»Danke.« Abels nahm die Zügel. Das struppige Panjepferdchen scharrte im Schnee und wieherte leise. Es war gut genährt, das beste und stärkste Schlittenpferd Tasskans. Im Schlitten lagen noch zwei Ballen Heu und ein Sack Hafer; Luxusnahrung für einen Panjegaul, der sich sonst das Gras aus dem Schnee scharrt oder das Stroh von den Dächern frißt, wenn es nichts anderes gibt.
»Noch etwas, Betty!«
»Ja, Martin?«
»Wenn ich durchkomme, wenn ich Europa wieder erreiche – soll ich irgend etwas bestellen? Nach den USA? An Ihre Mutter? An jemanden, den Sie lieb hatten?«
»An meine Mutter –« Amalja senkte den Kopf. »Wenn sie dann noch lebt. Schreiben Sie ihr, daß es mir gutgeht. Weiter nichts. Sie wird nicht fragen.«
»Dann geben Sie mir die Adresse.«
Amalja lief ins Haus und kam dann mit einem Zettel zurück, auf den sie mit Bleistift die Adresse ihrer Mutter geschrieben hatte: Mrs. Joan Cormick, Cody, Nebraska, 14, Harper Street, USA.
Abels las ihn, las ihn mehrmals und zerriß ihn. Dann sagte er aus dem Gedächtnis die Adresse her, und Amalja nickte zustimmend. Sie verstand. Nichts Schriftliches, was verdächtig sein konnte.
»Hoj! Hoj!« rief Abels und schnalzte mit der Zunge. Er ließ die Zügel locker, das Pferdchen schüttelte den Kopf, schnaubte, hob die Nüstern und begann anzulaufen. Die Schlittenkufen knirschten, Akja, der Wolfshund, knurrte zufrieden, und dann glitten sie über den Innenhof und aus der Palisadeneinfahrt hinaus aufs freie Land. Amalja lief neben ihnen her bis zum Ausgang, dann stand sie an dem hölzernen Zaun und winkte, bis Abels in der Waldschneise verschwunden war.
Am Abend kam Tasskan mit seinem Filmtrupp zurück. Er war zufrieden. Marfa hatte eine Liebesszene gespielt, die selbst abgebrühten Filmhasen die Haarwurzeln kribbeln ließ.
»Ist er weg?« fragte er Amalja nach dem Begrüßungskuß.
»Ja. Heute morgen um zehn Uhr.«
»Tut es dir leid?«
»Ja«, sagte sie ehrlich. »Glaubst du, daß er bis Torusk kommt?«
»Nein.«
Das war eine klare Antwort. Keiner hatte sie anders erwartet.
*
Martin Abels nahm den geraden Weg nach Norden zur Lena. Auf alten Landstraßen und Bauernpfaden, auf Nomadenwegen und durch Waldschneisen, manchmal quer durch den Wald, manchmal über vereiste Steppengebiete versuchte er, den großen Nebenfluß der Lena, die Olekma , zu erreichen. Von dort aus ging es leichter. An der Olekma entlang erreichte er die bekannte Faktorei Jenjuka , den großen Sammelplatz der Pelzjäger, wo der staatliche Fellkonzern seine Aufkäufer und Fellschätzer sitzen hatte und wo sich die Nomaden, Jäger und Fallensteller für die Monate der Einsamkeit in den sibirischen Wäldern versorgten.
Zehn Tage war er unterwegs, ohne etwas anderes zu sehen als Wälder, Hügel, Felsen, vereiste Sträucher, Wolfsspuren, huschende Füchse, über den Schnee schnellende Hermeline, Krähen und ab und zu die großen Schatten wilder Rentiere. Dann saß Akja, der Wolfshund, mit gespitzten Ohren neben Abels, sah ihn aus seinen grünen Augen an und fragte stumm, warum er auf dem Schlittenbock sitzen bleiben mußte.
Viermal in diesen zehn Tagen schoß Abels sein Essen und schonte seine Vorräte. Er erlegte zwei Hasen und zwei Krähen. Einen Teil
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