Ein Mädchen aus Torusk
Leib hatte Luft, der Eiter floß ab, aber mit ihm floß auch das Leben des ehemaligen Professors Groschew in den Schnee.
»Wo ziehen Sie hin?« fragte der Sterbende.
»Ich will nach Torusk. Das ist ein Dorf hoch oben im Norden.«
»Mit einer Poststation?«
»Jede Woche einmal kommt ein Genosse aus Taragaisk, der nimmt sie mit und bringt sie.« Ob es heute auch noch so ist, dachte Abels. Damals, vor acht Jahren, war es so. Aber der Genosse Postträger holte nur Post von uns Gefangenen ab. Wer konnte in Torusk schon schreiben? Die Alten nicht, nur die Jugend, wie Anuschka, die in Taragaisk in die Schule gegangen war. Aber auch sie schrieben nicht. Was soll man auch berichten? Daß es schneit? Daß es friert, daß im Sommer einen die Mückenschwärme auffressen? Daß im Sumpf die Riesenfrösche quaken? Es lohnt sich nicht, aus Torusk zu schreiben, auch wenn das Land so schön ist, daß man tausend Seiten schreiben könnte. Man wird still in der Weite. Man fühlt, daß man Gott näher ist als jeder andere.
»Ich habe eine Frau«, stammelte Groschew. Seine Augen verdrehten sich bereits. Er röchelte beim Atmen. Es ging schnell dem Ende zu. »Ljubja Groschewa, Moskau, Wassili-Prospekt 19 … Schreiben Sie ihr, Genosse?«
»Ja«, sagte Abels heiser.
»Schreiben Sie, ich sei fröhlich gestorben … das macht auch sie froh … Ich … ich war immer ein fröhlicher Mensch, Genosse … Im Lager sagten sie immer: Da kommt Väterchen Frohsinn … Es war Galgenhumor, mein Freund … es war die letzte Kraft, die ich hatte …«
Groschew schwieg. Sein offener Mund zuckte wild. Mit beiden Händen hielt er den offenen Bauch fest, seine Beine zuckten und scharrten den Schnee unter sich weg.
»Oh!« schrie er plötzlich. Es war ein ganz klarer, heller Schrei. »Oh! Mutter! Oh!«
Er schlug mit beiden Händen in sinnloser Wut auf den Schnee, riß den Bärenpelz von seinem Körper. Seine Augen starrten auf Abels, und der Blick war unbeschreiblich in seiner Qual und seinem inneren Kampf gegen den Tod.
»Oh!« brüllte er noch einmal. »Hilfe, ihr Brüder! Hilfe!«
Dann war es vorbei. Er sank in den Schnee zurück, die Augen brachen, die Stiefelspitzen kippten um, Speichel tropfte aus seinem Mund und gefror sofort zu kleinen gelben Klumpen.
Der Halbmongole erhob sich, beugte sich über den Toten und legte das Fell über den Kopf Groschews.
»Wer war's?« fragte er Abels.
»Ein Professor. Ein Strafgefangener aus Woroschilowa. Er ist geflüchtet. Weiß Gott, wohin er wollte. Er hatte nichts anderes als Sehnsucht nach der Freiheit –«
»Und du?« Es war die erste Frage, die man an Abels stellte.
»Ich bin Nikolai Stepanowitsch Arkadjef und will hinauf nach Torusk.«
»Torusk?« Einer der Jäger am Feuer sah sich um. »Ich kenne es.«
Durch Abels lief ein heißer Strahl. Er kennt es. Er wird die Turganows kennen.
»Du warst dort? Wann, Brüderchen?« rief Abels atemlos.
»Vor einem Sommer.« Der Jäger schnitt sich ein Stück Fleisch aus der Rentierlende. Er kaute genußvoll und leckte sich über die fettigen Lippen. »Wen willst du da besuchen?«
»Turganow. Kennst du Turganow, Genosse?«
Der Jäger dachte nach. »Pawel Andrejewitsch?« fragte er dann.
»Ja! Er ist es! Er ist es!« Abels warf die Arme hoch. Die Freude riß ihn mit. »Sag, wie geht es ihm? Was tut er? Lebt … lebt Olga, sein Weibchen, noch?«
»Turganow.« Der kauende Jäger nickte mehrmals. »Natürlich. Jäger und Bauer. Und sein Weibchen ist noch da. Er hatte damals einen guten Fang gemacht, der Gute. Unjeski lobte ihn …«
»Unjeski, der Fellhändler, lebt auch noch?« Abels hielt den Atem an. »Und Turganows Tochter? Anuschka –«
Der Jäger sah auf sein fetttriefendes Messer, nahm einen Schluck Wodka und rülpste laut. »Ein Mädchen?« Er hob die Schultern. »Habe niemand gesehen, Brüderchen. Von einer Anuschka haben wir nie gesprochen.«
»Nie?« Abels' Stimme versagte.
»Nie, Brüderchen. Bei einem Fellhandel geht es um Häute, nicht um Weiber.« Er winkte mit dem Messer. »Komm, setz dich her! Nimm dir noch ein Stück!«
Langsam trat Abels an das Feuer. Er hat nie etwas von Anuschka gehört, dachte er erschrocken. Seltsam. Wenn keiner es tut – Turganow spricht von ihr, denn er ist stolz auf sein Mädchen.
Er setzte sich, aber er kaute an dem Stück zarter Rentierlende wie auf Gummi. Auch der Wodka spülte sie nicht hinunter.
Sie lebt nicht mehr, dachte Abels. Anuschka lebt nicht mehr. Jeder, der Torusk kennt, würde sie sonst
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