Ein magischer Walzer
können doch nicht ernsthaft andeuten wollen, dass Mr. Reyne seinen Schwiegervater und seine Frau umgebracht hat.“
Mrs. Jenner legte sich einen juwelengeschmückten Zeigefinger an die Nase und wiegte den Kopf.
„Was für eine Antwort soll das denn sein?“, rief Hope erbost.
Ihre finster gerunzelte Stirn galt ihrer Anstandsdame und ihrer Schwester. Wie konnten sie so dasitzen, insgeheim den entsetzlichen Klatsch über Sebastian Reyne genießen. Für sie war es nicht mehr als eine ergötzliche Geschichte. Doch für Hope war es mehr, wichtiger. Warum, das wagte sie nicht genauer zu hinterfragen. Aber sie wollte die Wahrheit wissen.
„Er ist zu allem fähig“, beharrte Mrs. Jenner. „Man braucht ihn nur anzusehen, um zu wissen, dass er eine brutale Vergangenheit hat.“
Hope schnaubte empört. „Ich glaube kein Wort davon. Wenn er seine Frau und ihren Vater ermordet hat, warum ist er dafür nicht gehängt oder deportiert worden?“
Mrs. Jenner rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. „Ein paar Guineas hier, ein paar da, eingeschüchterte Zeugen - oder schlimmer. Alles ist möglich, wenn man Herr von allem ist, so weit das Augen reicht, aber nicht zum Gentleman erzogen ist. Und das ist er nicht.“
Hope verdrehte die Augen. Wie viele Mitglieder der guten Gesellschaft war Mrs. Jenner schnell dabei, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen. Aber Hope ließ nicht locker und fragte: „Herr von allem, so weit das Auge reicht? Was erblickt sein Auge denn?“
Mrs. Jenner machte eine ausholende Handbewegung. „Sie müssen es nur nennen, meine Liebe. Spinnereien, Webereien und Fabriken im Norden. Bergwerke, Kanäle, Schiffe - er ist unermesslich reich, ohne Zweifel. Wie er dazu gekommen ist, ist eine andere Sache. Man muss sich ja nur sein Gesicht ansehen.“ Sie erschauerte. „Diese mitleidlosen, kalten grauen Augen.“ Hope fand seine Augen weder mitleidlos noch kalt. Einsam vielleicht. Hungrig, da war sie sicher. Nur worauf?
Sie war nie leicht eingeschlafen, und so lag Hope nach dem Ball hellwach im Bett und dachte über den geheimnisvollen Mr. Reyne nach. In dem anderen Bett schlief Faith friedlich, ungestört von lästigen Gedanken oder unerfüllten Träumen.
Hope sehnte sich danach, von jemand anderem als ihren Schwestern geliebt zu werden. Von einem anderen Mann als ihrem Großonkel. Von dem Mann ihrer Träume.
Sebastian Reyne kam dem Schattenmann aus ihrem Traum sehr nahe: dunkel, geheimnisvoll und brütend. Er durchstreifte den Saal voller Selbstsicherheit und ohne sich um die Meinung der Gesellschaft zu scheren, verfolgte sie mit hungrigen Blicken wie es ein Traummann tun würde.
Hope seufzte enttäuscht. Er kam ihm nahe, aber nicht nahe genug. Mit ihm zu tanzen war nicht wie mit irgendeinem Traummann zu tanzen. Nur wenn es perfekt war, wurde ihr Traum wahr.
Er war ein grässlicher Tänzer, der arme Mann. In dem Augenblick, da er sie berührte, war er steif geworden, seine Bewegungen abgehackt und peinlich präzise. Er hatte sie auf Abstand gehalten, als wäre sie ein wildes Tier, und über die Tanzfläche dirigiert, als sei sie eine zarte, zerbrechliche ... Schubkarre.
Aus irgendeinem Grund weckte das in ihr den Wunsch, ihn zu umarmen.
Die meiste Zeit während des Tanzes hatte er leise mitgezählt und auf seine Schritte geachtet. Aber als Lord Streatfield mit ihnen zusammengestoßen war, war Mr. Reyne keine Sekunde aus dem Takt gekommen. Ohne zu zögern, hatte er einen Arm um sie geschlungen und sie mit seinem Körper geschützt. Er hatte den betrunkenen Earl auf die Füße gezerrt, ihn dafür zurechtgewiesen, zu viel getrunken zu haben, und sich nicht im Geringsten darum gekümmert, was der davon hielt. Dann hatte er weitergetanzt und sie dabei gehalten, als sei sie das Kostbarste auf der Welt.
Indem er sie beschützte, hatte er alle Verlegenheit und Steifheit abgelegt, und seine Kraft und seine Stärke waren wie ein Schutzschild um sie geflossen.
Es hatte ihr den Atem geraubt. Und ein paar Augenblicke lang hatte sie vergessen, wo sie war.
Noch nie hatte sie jemanden wie ihn getroffen. Er war so eine Mischung aus Widersprüchen. In der Öffentlichkeit selbstsicher und privat schüchtern. Körperliche Kraft und unbedingte Sanftheit. Warum sie sich so seltsam zu ihm hingezogen fühlte, konnte sie nicht erklären; es hatte etwas damit zu tun, wie er sie hielt - mit zärtlicher Steifheit.
Sicher lag es nicht an seinen Umgangsformen. Er besaß kein Konversationstalent. Hübsche, blumige
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