Ein Mann fürs Grobe
nächsten Schuß alles auf sich zu nehmen, auch einen Mord.
«Konradshöhe raus», nuschelte NN.
«Und wo da bitte?»
«Sag ick Ihnen schon, wenn wa da sind.»
Konradshöhe war nicht ganz so einsam wie Lübars, aber immerhin als Tatort auch bestens geeignet.
Mannhardt schaltete das Taxameter ein und fuhr los. Im Augenblick war er sich ganz sicher, Wuttkowskis Mörder hinter sich zu haben. Die Chemie, die Wellen... Er hatte Angst, fühlte sich aber gleichzeitig durch die freigesetzten körpereigenen Drogen zu einem Gipfel hochgepuscht, wie er ihn nur selten erreichte. Risikokletterer erlebten ihn, Fallschirmspringer, Formel-1-Rennfahrer, und es gab nur das eine Wort dafür: WAHNSINN. Für einen Augenblick wünschte er, NN würde seine Waffe hervorholen und ihn wortlos erschießen. In diesem Moment zu sterben wäre schön gewesen.
Sofort aber erwachte die Kraft in ihm, die programmiert war auf das Weiterleben, auf den Erhalt des Organismus. Halt an , s teig aus, schenk ihm hundert Mark! Hol deine Waffe unterm Sitz hervor! Zugleich wußte er aus kriminologischen Studien, daß Bewaffnung das Opferrisiko erhöhte, weil Waffenträger in Spannungssituationen eher eine konfliktverschärfende Handlungsstrategie verfolgten, also nicht mehr lange fackelten, sprich: diskutierten, sondern gleich losballerten und damit auch Gefahr liefen, selber getroffen und getötet zu werden. Soweit die Theorie. Sie war insofern richtig, als daß NN, wenn er seine Pistole in der Hosentasche stecken hatte, viel eher abdrücken konnte als er selber. Ehe er unter den Sitz gegriffen und sich um gedreht hatte...
Was Mannhardt vor allem in seinem Urteil bestärkte, in NN Wuttkowskis Mörder im Fond seiner Taxe zu wissen, zumindest aber einen gewaltbereiten Kriminellen, war die Tatsache, daß der Mann die ganze Zeit über nach draußen starrte und ihn, Mannhardt, als Menschen gar nicht wahrzunehmen schien. Er hatte lange genug als nebenamtlicher Dozent an der HÖV Bramme wie an der FHVR Berlin unterrichtet, um nicht sofort die Namen Sykes & Matza und M. J. Lerner im Gedächtnis zu haben. Das Stichwort bei Sykes & Matza war: die Entpersonalisierung des Opfers. Danach mußte ein Täter, um seine artspezifiche wie anerzogene Tötungshemmung zu überwinden, das Opfer erst degradieren, also herabwürdigen, indem er es zum Beispiel als «Schwein» oder «Arschloch» bezeichnete, und es dann, um gar kein Mitgefühl oder Mitleid aufkommen zu lassen, quasi als seelenlosen Gegenstand oder als Symbol ansehen. Nach Lerners «Theorie der just world » fühlten sich Raubmörder sozusagen zur Tat berufen, weil sie damit für einen gerechten Ausgleich zwischen den Menschen Sorge trugen: Sie nahmen denen etwas weg, die zuviel davon hatten, und brachten denen Unglück, die bis dato ein Übermaß an Glück genossen hatten.
Mannhardt wußte, daß nichts passieren würde, solange sie durch Straßen fuhren, auf denen viele Autos unterwegs waren, etliche Menschen spazierten und alle fünfzig Meter die Laternen brannten. Erst in Konradshöhe, in der dunklen Einöde am Ufer der Oberhavel, würde NN ihn erschießen.
Lindauer Allee, Waldstraße, Wittestraße, Tegel... Es waren noch gute fünfzehn Minuten bis Konradshöhe.
12
Yaiza Teetzmann war bei der Jagd nach Wuttkowskis Mörder die Rolle des Fahrgastes zugefallen. Aber nicht nur im Wagen, sondern auch an den Halteplätzen interviewte sie die Fahrer anhand eines schnell gefertigten Fragebogens. Sie hoffte, auf diese Weise zu einer Reihe von Täterbeschreibungen zu kommen, die sie dann mit den Daten schon aktenkundig gewordener Männer abgleichen wollte. Ihre These war, daß sich der Täter kontinuierlich entwickelt hatte, also schon eine Reihe leichterer «Taxi-bezogener» Delikte wie Fahrgeldprellerei, Nötigung oder gefährliche Körperverletzung aufweisen mußte.
Sie war mit voller Hingabe dabei, so wie es das Gesetz verlangte, wie sie überhaupt eine der wenigen Ostberlinerinnen war, die nicht jammerten und stöhnten, sondern sich des Lebens freuten. Mit einem Filmtitel von James Bond verkündete sie im holprigen EOS-Englisch bei jeder sich bietenden Gelegenheit «You only live twice», was besagen sollte, daß sie ihr Leben in der DDR voll bejahte und dankbar abgeschlossen hatte, um nun im neuen einig Vaterland als eine gänzlich andere Yaiza Teetzmann ihre Rolle zu spielen. Sie fand alles herrlich. Mehr Geld zu haben, mehr Klamotten, ein schnelles Auto, die kleine Wohnung in Karlshorst, die Flüge auf die
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