Ein Mann - Kein Wort
unzufriedene Frau Mitte fünfzig fragte, weshalb sie sich nicht mehr um Kontakte mit anderen Menschen bemühe, sagte sie mir unverblümt: »Dann muss ich mir deren Probleme ja auch noch anhören. Ich hab doch mit meinen eigenen schon genug zu tun!«
Was dieser Frau ebenso wie vielen anderen Zeitgenossen offenbarin keiner Weise klar ist: Wer sich um andere kümmert, muss zwar Zeit und Kraft aufwenden, bekommt aber auch viel positive Energie und Wertschätzung zurück – die wiederum hilft, die eigenen Schwierigkeiten zu bewältigen, die auch Abstand und Ablenkung von eigenem Leid bedeutet. Freundschaftliche Anteilnahme und Interesse an anderen Menschen müssen keine Einbahnstraße sein, ganz im Gegenteil. Egoistisches, das heißt sich nur um sich selbst drehendes Leben erntet hingegen langfristig genau das, was dem Menschen am meisten schadet, nämlich Einsamkeit, Unzufriedenheit und innere Leere.
Vor allem beim Wegfall äußerer Strukturen wie Arbeitsplatz und Familie bricht das ganze Elend dieses Lebensstils mit Macht hervor, wie ich – nicht nur, aber auch – bei alten und verwitweten Menschen häufig beobachtet habe.
»Immer nur lächeln …«
Nicht zuletzt: Der ideale Zeitgenosse hat möglichst immer »gut drauf« zu sein. Damit ist eine Ausstrahlung von Optimismus gemeint, von guter Laune und unbedingtem Glauben an die eigene Stärke und die eigenen Fähigkeiten, sprich: ein zur Schau getragenes hohes Selbstbewusstsein.
Was diesem Ideal der Außendarstellung im Wege steht, sind alle Erfahrungen von Niederlagen, Scheitern sowie Selbstzweifel, persönliche Unsicherheit und vieles mehr, was das Leben an eher problematischen Erfahrungen mit sich bringt. Getreu dem Operettenmotto »Immer nur lächeln …, doch wie’s da drin aussieht, geht niemand was an« wagen es viele Menschen heute nicht mehr, sich mit ihren Problemen an andere zu wenden und sich damit als »überhaupt nicht gut drauf« oder »gut dran« zu offenbaren. Sie fürchten, als Schwächlinge und Versager, als Störenfriede oder Stimmungskiller angesehen und womöglich ausgegrenzt oder verachtet zu werden.
Dies führt dazu, dass gerade bei den negativen Gefühlen – abgesehen von Ärger – eine große Verschwiegenheit herrscht, die z.B. Trauernde, aber auch viele andere seelisch Belastete dazu treibt, sich entweder völlig zurückzuziehen oder sich in eine »Selbsthilfegruppe«mit lauter Gleichgesinnten zu flüchten. Es führt außerdem dazu, dass sich Menschen mit seelischen Problemen zunehmend an professionelle Helfer wenden, weil sie in ihrem sozialen Umfeld keine Möglichkeit sehen – oder es nicht wagen –, sich jemandem anzuvertrauen.
Zwar werden im Fernsehen in zahlreichen Filmen immer wieder menschliche Problemfälle wie Rechtsstreitigkeiten, Erziehungsprobleme und Partnerschaftskonflikte geschildert, aber in der Regel findet die »Lösung« des Problems innerhalb von 45 Minuten, maximal 90 Minuten statt. Das hat mit der Wirklichkeit nicht das Geringste zu tun, sodass diese Fälle keineswegs als Lernmodelle für das wirkliche Leben dienen können.
Kontakt mit Lebendigem
Im Übrigen: Auch der Umgang mit Kindern oder Tieren, der eine Fülle an emotionalen Erlebnissen bereithält, wird heute eher seltener. Tiere zu halten können sich viele Menschen aufgrund beengter Wohnverhältnisse oder Finanzen etc. nicht leisten, Kinder werden ebenfalls eine Rarität in unserem geburtenarmen Land. An die Stelle von lebendigen Wesen tritt für viele Menschen der Umgang mit Maschinen (Auto, Computer, Fernsehen etc.), sprich: mit toter Technik. Er hat außer intensiven Frustrationserlebnissen, wenn etwas nicht funktioniert oder kaputtgeht, und kurzen Glücksmomenten, wenn es endlich oder wieder oder besser funktioniert, keine breitere Gefühlspalette zu bieten. Emotionen wie Mitleid, Geduld, Einfühlungsvermögen, Toleranz, Respekt, Rücksicht, aber auch Freude, Staunen und Bewunderung können nicht eingeübt und kommuniziert werden. 47
Erhöhte Hemmschwellen
Auffallend ist, dass es für viele Menschen nur noch dann möglich ist, spontan ihre Gefühle auszudrücken oder auszuleben, wenn ihre Hemmschwellen durch die Wirkung von Alkohol herabgesetzt werden. Dies zeigt sich oft überdeutlich auf Faschingsveranstaltungen, Betriebsfeiern etc.
Abschließend sei eine ungewöhnliche emotionale Begegnung wiedergegeben: Bei dem Katholischen Weltjugendtag in Köln im Jahr 2005 waren einige christliche Filipinas im Rotlichtviertel Kölns
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