Ein Mann von Ehre
anständig aufführen. Außerdem habe ich, wie du sehr wohl weißt, Lady Orford versprochen, die Herrschaften, die im Sommer in Orford Hall wohnen werden, mit den Nachbarn bekannt zu machen.“
Maria wusste seit Langem, dass es wenig Sinn hatte, ihre strikten Vorstellungen vom tadellosen Lebenswandel einer Dame der Cousine aufdrängen zu wollen. „Tu, was du für richtig hältst“, erwiderte sie resignierend. „Es steht mir ohnehin nicht zu, dir Belehrungen zu erteilen.“
Rosalyn ging nicht auf die letzte Bemerkung ein. „Ich bin sicher, Maria, dass wir in Orford Hall nichts zu befürchten haben und du dich morgen Abend gut unterhältst. Lord Orford hätte sein Anwesen nicht vermietet, wenn er der Meinung gewesen wäre, Mr. Wrexham und sein Begleiter seien keine respektablen Herrschaften.“
„Wie du meinst, Rosalyn.“
„Ich weiß, dein Einwand beruht nur darauf, dass du dich aus Zuneigung zu mir um mein Wohlergehen sorgst.“ Rosalyn neigte sich zur Cousine und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Sie mochte sie und vermied es daher, ihr gegenüber einen zu scharfen Ton anzuschlagen. „Gut, dann ist die Sache erledigt. Wollen wir jetzt essen, Maria? Der Spaziergang hat mich hungrig gemacht.“
Rosalyn legte das Buch auf den Beistelltisch, stand auf und ging zu einer der Terrassentüren. Nachdenklich schaute sie in den mondhellen Park und bemerkte plötzlich bei einem Gebüsch eine Bewegung. Zu dieser späten Stunde hielt sich ganz sicher kein Dienstbote im Freien auf. Bei der Gestalt musste es sich um einen Fremden handeln, der auf ihr Grundstück gedrungen war. Unwillkürlich rann Rosalyn ein Frösteln über den Rücken.
Nur einige Augenblicke später vernahm sie Gebell und sah die Hündin in Sicht kommen, gefolgt von einem Jungen, der etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt sein mochte. Er trug einen Turban und seltsame Gewänder, rannte hinter Sheba her und rief ihr Unverständliches zu. Offenbar war er der indische Schützling, den Mr. Wrexham erwähnt hatte. Es verwunderte Rosalyn, dass Mr. Wrexham ihm gestattet hatte, noch so spät außer Haus zu sein, und besorgt überlegte sie, ob sie zu dem Jungen gehen solle.
Nach einem Moment hatte er die Hündin eingeholt, die sich hinsetzte und sich von ihm streicheln ließ. Rosalyn war schon halb entschlossen, in den Park zu eilen, als sie einen Mann bemerkte, der ebenfalls eigenartig gekleidet war. Er hastete auf das Kind zu und hatte es fast erreicht, als der Junge seiner ansichtig wurde, aufschrie und vor ihm zurückwich.
Nun fand Rosalyn es angebracht, einzugreifen. Sie machte die Tür auf, sah den Blick des Mannes, dessen Miene Erschrecken ausdrückte, sich auf sie richten und gleichzeitig die Hündin den Unbekannten angreifen. Sheba wollte wohl ihren neuen Freund, den sie bedroht wähnte, beschützen und biss den Erwachsenen in den Arm. Laut aufschreiend zuckte er, die Hand auf die Stelle pressend, vor dem Hund zurück. Er äußerte etwas in einer fremden Sprache, woraufhin der verstörte Junge heftig den Kopf schüttelte.
„Aus, Sheba!“, rief Rosalyn ihr zu und lief auf die Gruppe zu. „Wer sind Sie? Was wollen Sie hier?“
Einen Moment lang schaute der Mann sie unschlüssig an und redete dann wieder auf den Jungen ein. Sie war jedoch der Ansicht, dass er sie verstanden hatte.
Rasch hielt sie die Hündin am Halsband fest, stellte sich zwischen den Jungen und den Eindringling und herrschte diesen an: „Sie sind mir eine Erklärung schuldig! Was treiben Sie hier, und warum hat das Kind solche Angst vor Ihnen?“
Schweigend betrachtete er Rosalyn, wandte sich dann jäh ab und zwängte sich durch das Gebüsch.
„Er wird nicht zurückkommen“, sagte der Junge, nachdem die von dem Mann verursachten Geräusche nicht mehr zu hören waren. „Sie und der Hund haben mich gerettet, Memsahib.“
Das Kind war älter, als sie zunächst gedacht hatte. Sein zierlicher Wuchs hatte sie zu dem Irrtum verleitet. Es strahlte eine erstaunliche Würde aus und schien so gut erzogen zu sein, dass es auf gesellschaftlichem Parkett kein Missfallen erregt hätte. Rosalyn war überrascht, dass man die Absicht hatte, ihm englische Lebensart beizubringen. Es musste einen anderen Grund geben, weshalb Mr. Wrexham und dieser Junge sich auf ein in Cambridgeshire gelegenes Landgut zurückgezogen hatten. Vielleicht war Mr. Wrexham tatsächlich nicht der Privatlehrer des Kindes, sondern eher sein Leibwächter. Unwillkürlich überlegte Rosalyn, wer dann der andere Mann
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