Ein Mann von Welt
schauen, und dann sagte er, der wahre Weg wäre weder breit noch gerade und dass er mich nur bis zum Ausgangspunkt bringen könnte, dass ein Mann von Welt vor allem auf sich allein gestellt ist, und unsere grundsätzliche Einsamkeit zu verleugnen würde bedeuten, einer gefährlichen Illusion aufzusitzen. Er legte mir die Hand auf die Schulter und sagte, dass ehrliche Freundschaft, die Art von Freundschaft, die wir hatten, ein großer Trost war, aber eben nur ein Trost, die sogenannten Grundregeln
würde sie nicht ändern. Unten klopfte es an meine Tür, Tante Liz wollte wissen, was ich da machte, sie dachte, sie hätte Stimmen gehört. Ich steckte meinen Kopf durch die Decke und sagte ihr, ich hätte meine Bibelkassette gehört. Abendessen war fertig, sagte sie, würde ich also bitte zum Abendessen kommen?
Ich habe hier keine Zeit, Juan-George, dir von jeder Mahlzeit zu berichten oder jedes Gesicht, dass Tante Liz machte, zu beschreiben oder jeden Moment meines Lebens, ich wünschte, ich könnte dich zurück in mein Leben mitnehmen, damit du auf meinen Schultern stehen könntest, damit du deinen Vater aus erster Hand kennenlernen würdest, aber ich kann das nicht, ich habe die Zeit nicht, und es gibt auf der ganzen Welt wohl nicht genug Tonband dafür. Obwohl der Exitus näher kommt, obwohl der Sonnenaufgang, den ich nicht sehen werde, nicht mehr lange auf sich warten lässt, möchte ich mir doch einen Moment Zeit nehmen, um dir von diesem Abendessen mit Tante Liz zu erzählen. Es geht mir nicht um das, was gesagt wurde, ich war an diesem Abend kein angenehmer Gesprächspartner, ich versuchte vor allem, keinen Verdacht zu erregen. Tante Liz redete, sie hatte mit Dr. Rosenkleig gesprochen, sie drückte ihre Freude und Überraschung darüber aus, dass ich ein neues Kapitel aufgeschlagen hatte, ihre Worte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, ich konnte die Illusion nicht wirklich aufrechterhalten, aber ich wagte es auch nicht, sie einfach fallenzulassen. Ich schaute, wie Tante Liz den Spaghettilöffel umfasste und Nudeln auf meinen Teller gab, ich sah die Fle
cken auf ihrer Hand, ich sah die Muskeln und Sehnen, ich sah ihre Stärke und Schwäche, alles gleichzeitig. Sie tauchte den Löffel zurück in die Schüssel, dieses Mal, um mir noch ein Fleischbällchen extra rauszufischen. Sie schaute mich an, ihre pragmatischen Augen blickten prüfend über ihre Lese-Essbrille, und sie fragte mich, ob ich genug Fleischbällchen auf meinem Teller hatte oder noch eins wollte. Und ich hatte das Gefühl, das überwältigende Gefühl, dass Tante Liz die Einsamkeit, von der Paul gesprochen hatte, sehr gut kannte. Sie streckte ständig die Hand über den Graben aus.
Nach dem Essen kehrte ich unters Dach zurück, ich war bereit anzufangen, ich war bereit zu hören, woran Paul gerade arbeitete, und ich war bereit, ihn zu unterstützen, wo ich nur konnte, was immer ich auch tun konnte, um der Pantomime meines Lebens entgegenzuwirken. Ich war bereit, ein Doppelagent zu sein, ich war bereit, mich durch den Alltag zu schauspielern, um die Illusion aufrechtzuerhalten, dass ich Tante Liz' Plan für mein Leben befolgte. Paul lag auf einer Matratze aus Dämmstoff, den er zwischen zwei Dachbalken rausgeholt hatte, silberne und rosa Fasern quollen aus dem Inneren hervor. Er trug neue Kleidung, ich fragte mich, wo er die herhatte, bis mir die merkwürdigen Nähte auffielen und ich merkte, dass er seinen Anzug jetzt auf links trug. Ich räusperte mich, aber er blieb auf seinem Rücken liegen, bewegte sich nicht und sagte kein Wort, sondern starrte die Papiere an, die er über seinem Kopf befestigt hatte. Nach einem, wie ich jetzt sagen würde, ziemlich ausgedehnten
Schweigen erklärte er, dass er seine alten Notizen las, seinen Geist mit den grundlegenden Fragen, die er lösen wollte, wieder auffüllte, er hatte noch nicht einmal den Punkt erreicht, wo er Fortschritte machen könnte, er versuchte immer noch, sich selbst einzuholen, sein früheres Ich, er machte sich zu einem Duplikat dessen, was er gewesen war, das war eine heikle Phase. Er hatte auf seinem Weg viele Hindernisse überwinden müssen, Hindernis um Hindernis, so dass er unterwegs zu jemandem geworden war, der bloß Hindernisse überwand, statt zu jemandem, der das Denken voranbringt, und der einzige Weg zurück war, wieder zu seinem früheren Ich zu werden, zu einem Duplikat seines früheren Ichs. Deshalb begann er, seine ganzen alten Ideen wiederaufzunehmen, sozusagen
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