Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Mann von Welt

Ein Mann von Welt

Titel: Ein Mann von Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antoine Wilson
Vom Netzwerk:
lange sprechen wollte, ich hatte genau die Frage auf den Tisch gebracht, die er ansprechen wollte, und ich hatte es besser gemacht, als er das je hätte tun können, er hatte geplant, über ein Erdbeben in Portugal zu sprechen, ich hatte es auf sehr persönliche Weise ausgedrückt. Wenn wir wirklich nach Gottes Plan lebten, sagte Mark, warum gab es dann so viel Leid in der Welt? Ein scheinbares Paradox, sagte Mark, er mochte Paradoxe, und doch war die Antwort einfach, so einfach, dass viele Leute sie komplett übersahen, die Antwort ließ sich am besten als Frage formulieren, sagte Mark, oder als zwei Fragen: Wer bist du, dass du Gottes Plan hinterfragst? Ist deine Weisheit unendlich wie Gottes Weisheit? Alle im Bibelkreis waren sich einig, dass Mark etwas Wichtiges gesagt hatte, dass es einen Grund für das Leid auf der Welt geben musste, den nur Gott kannte, etwas, was wir sozusagen von unserem Standpunkt aus nicht sehen konnten. Nun behaupte ich nicht, alles zu wissen, Juan-George, eigentlich bin ich sicher, nur sehr wenig zu wissen, die Gebiete, auf denen ich mich auskenne, sind begrenzt und sehr klein, aber es erscheint mir sehr viel vernünftiger zu sagen, es gibt keinen Plan, und dass der Grund, dass Natalie ertrunken ist, nichts mit Gottes Willen zu tun hatte, es war ein Unfall, es passierte, weil sie nicht wusste, wie tief die
Pfütze war und sie nicht schwimmen konnte und ihr Bruder abgelenkt war, er zerpflückte gerade einen Granatapfel. Warum bin ich hier in diesem Krankenhausbett und sterbe an meinen Verletzungen, kurz bevor du auf die Welt kommen sollst? Ist es Gott so wichtig, dass wir uns nicht kennenlernen? Mich interessiert das, ich habe mich schon immer dafür interessiert, die Welt zu verstehen, dein Großvater hat sich auch immer dafür interessiert, und noch mehr lag ihm daran, die Welt fair zu machen, sie zu einem fairen Ort zu machen, aber das Leben ist unfair, meistens jedenfalls, und manchmal ist ein Unfall nur ein Unfall. Mark redete über Natalie, die er nie kennengelernt hatte, und über Erdbeben, ich kann gar nicht zählen, wie oft er den Begriff unnötiges Leiden benutzte. Er lächelte an Stellen, wo jeder, der ganz bei Trost ist, ein ernstes Gesicht gemacht hätte, er redete von Dingen, die furchtbar waren, er redete von Dingen, vor denen jeder, der noch ein bisschen was im Kopf hatte, zurückschrecken würde, von Amputationen, Kämpfen, Vergiftungen, Hungersnöten, und er sagte, all das wären auch Geschenke Gottes, deren Bedeutung erst nach dem Tod offenbart würde. Er erwähnte Hiob, alle wurden etwas munterer, er hatte sich ins Alte Testament gewagt, er erwähnte Hiob und zitierte eine Passage falsch, ich korrigierte ihn nicht. Es gibt da so einen Ausdruck, etwas in einem neuen Licht sehen, genau so kam es mir vor. Ich konnte auf einmal die Risse sehen, und ich konnte den Staub in den Rissen sehen. Die Leuchtturmgemeinde war ein Bienenstock der Perversität, der Leuchtturm war ein perverses Symbol, alle diese Dinge gingen mir im Kopf herum. Sie überlagerten
alles, was ich sah und hörte. Ich mache den Leuten in der Leuchtturmgemeinde keine Vorwürfe, Juan-George, ich gönne ihnen ihren Glauben, jeder Mensch ist anders. Ich möchte nur, dass du immer daran denkst, dass das, was wir sehen, oder besser gesagt, was wir zu sehen glauben, immer durch die Worte in unseren Köpfen verändert wird, was bedeutet, dass wir, selbst wenn wir alle dieselbe Sache anschauen, jeder von uns etwas anderes sieht.

    Gerade eben habe ich gefragt, warum ich hier in diesem Krankenhausbett sterbe, nur einen Monat bevor du auf die Welt kommen sollst, und als ich das gesagt habe, wurde mir klar, dass ich dir die Geschichte noch gar nicht erzählt habe. Ich breche jetzt mal an der Stelle ab, wie ich mitten in der Bibelstunde rausgegangen bin, ich komme gleich darauf zurück, weil ich dir erst was anderes erzählen will, was viel wichtiger ist, ich will dir erzählen, wie ich in diesem Krankenhaus gelandet bin. Ich habe auch noch kein Wort darüber verloren, wie ich Panorama City verließ und wieder nach Madera zurückkehrte, wie ich deine Mutter wiederfand, wie wir einen Haushalt gründeten, wie man so sagt, im alten Haus, ich hoffe, ich habe dafür noch Zeit, aber wenn der Exitus früher kommt, war ja deine Mutter dabei, sie kann dir das alles erzählen. Es war so: Ich fuhr vor ein paar Tagen mit meinem blauglitzernden Drei-Gang-Schwinn herum, wie ich das immer gemacht hatte, bevor dein Großvater starb,

Weitere Kostenlose Bücher