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Ein Mann wie ein Erdbeben

Ein Mann wie ein Erdbeben

Titel: Ein Mann wie ein Erdbeben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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aussteigen sah. Ihre langen blonden Haare wehten im Wind und verdeckten ihr Gesicht wie mit einem Schleier.
    Haferkamp lief sofort zu seinem Neffen. Der Sarg stand noch in der Kapelle. Orgelmusik tönte aus den geöffneten Türen. Ein Präludium von Bach. Haferkamp hatte es ausgesucht. Bach ist immer gut und feierlich. Wer Bach gehört hat, kann kein Revolutionär mehr sein.
    »Stell dich nicht so provozierend hin!« zischte er Bob an. »Das hier ist keine Party, sondern ein verflucht trauriger Tag! Wenn du schon einen Mistklumpen statt eines Herzens in der Brust hast, dann zieh wenigstens ein Gesicht der Ergriffenheit. Man erwartet es von uns!«
    Bob Barreis lächelte mokant. Dann ließ er einen traurigen Vorhang über sein Gesicht fallen und sah plötzlich um Jahre älter aus. Theo Haferkamp starrte seinen Neffen betroffen an.
    »Das ist eine Meisterleistung«, stotterte er. »Wenigstens auf dem Gebiet der Täuschung hast du es zu etwas gebracht.«
    Bob zuckte mit den Schultern, stieß sich von seinem roten Wagen ab und setzte sich neben Haferkamp in Bewegung, als sie, die wirklichen Herren von Vredenhausen, langsam und gemessen durch eine Masse von stummen Menschen – davon siebzig Prozent Lohnabhängige – zum Grab schritten. Eine schwarze Gasse bildete sich, und unwillkürlich mußte Haferkamp, literarisch gebildet, an die ›Hohle Gasse‹ aus Wilhelm Tell denken.
    Wo war der Tell Ernst Adams'? Wo lauerte er auf die Gelegenheit zum Schuß gegen die Gessler-Familie Barreis?
    Am Grab begrüßten die Stadträte und der Bürgermeister die Barreis'. Dann schwieg man ergriffen, denn von der Kapelle her nahte der Zug mit dem Sarg.
    Der Pfarrer. Die Abordnungen mit den Fahnen. Sechs junge Männer in weißen Sturzhelmen trugen den schweren Eichensarg. Es sah feierlich, ja sogar schön aus. Eine gute Inszenierung.
    Dem Sarg folgte allein Ernst Adams.
    Niemand ging neben ihm, sogar den Beistand des Pfarrers hatte er abgelehnt. Einsam schritt er hinter seinem toten Sohn her, in seinem alten, abgewetzt glänzenden schwarzen Anzug, barhäuptig, den Blick starr auf den Sarg gerichtet. Die Menschen von Vredenhausen starrten ihn an wie ein Fossil, irgendwo in der Menge weinte eine Frau laut auf, ein Blumenstrauß flog aus der Menge auf den Sarg. Das war Provokation, jeder wußte es, alle schielten zu den Barreis' … aber es war eine anonyme Provokation, das Summen einer Fliege, ehe man sie totschlägt.
    Am Grab setzten die sechs weißen Sturzhelme den Sarg ab. Der Pfarrer begann seine Predigt. Er sprach von der Liebe Gottes und davon, daß Gott den, den er liebt, früh zu sich nimmt. So betrachtet wären alle alten Menschen keine Lieblinge Gottes … weder Rockefeller noch Adenauer, weder Päpste noch Kardinale. Stirbt aber ein Neunzigjähriger, dann sagt der gleiche Pfarrer am Grab: »Gott schenkte ihm ein langes Leben der Erfüllung und der Gnade!« Man sollte die Kirche einmal auf diese Schizophrenie aufmerksam machen …
    Ernst Adams ließ die Predigt über sich hinwegfließen wie Regen im April. Auch den Gesangsverein von Vredenhausen schluckte er noch, weil er ein Kirchenlied sang. Aber als der Vertreter des Motorclubs ans Grab trat, stellte er sich ihm in den Weg und sagte:
    »Schluß jetzt! Ich war der einzige, der meinen Jungen richtig kannte. Und ich weiß, daß er das alles hier nicht gewollt hätte! Am allerwenigsten wollte er sterben, in einem glühenden Blechkasten an einer Felswand, wo er nichts zu suchen hatte!«
    Theo Haferkamp brach der Schweiß aus. Er stieß Dr. Dorlach neben sich an.
    »Tun Sie etwas«, flüsterte er. »Jetzt geht es los! Geben Sie dem Gesangsverein einen Wink, daß er noch einmal singen soll!«
    »Wir können jetzt gar nichts unternehmen«, flüsterte Dr. Dorlach unbewegt zurück. »Erst hinterher. Wir können den alten Adams für unzurechnungsfähig erklären lassen. Aber alles erst hinterher …«
    »Mein Junge mußte sterben«, sagte Adams laut über die Hunderte von Köpfen hinweg, und es war so still auf dem Friedhof, wie es seinem Namen gebührt. »Er verbrannte als Opfer der Rekordsucht eines anderen. Dieser andere war sein Freund. Er bewunderte ihn und hatte Angst vor ihm. Er haßte die schnellen Wagen und fuhr trotzdem alle Rallyes mit. Er suchte nur das Schöne und unterlag der zügellosen Wildheit.«
    »Jetzt müssen Sie was tun!« zischte Haferkamp und gab Dr. Dorlach einen Stoß.
    »Adams tut es schon für uns! Was er sagt, kann man leicht als Geistesstörung

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