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Ein Mann wie ein Erdbeben

Ein Mann wie ein Erdbeben

Titel: Ein Mann wie ein Erdbeben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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war der alte Adams aufgeblieben, hatte sich an den Lebensweg seines toten Sohnes erinnert, alte Fotoalben hervorgeholt und mit verschleierten Augen die kleinen Amateurbildchen betrachtet.
    Lutz im Körbchen, drei Tage alt. Lutz im Kinderwagen. Die ersten Schritte. Die erste Begegnung mit einem Hund. Lutz an der Nordsee beim Sandburgbauen. Lutz mit der großen Schultüte als Schulanfänger. Lutz als Sieger beim Jugendsportfest. Lutz in der Tanzstunde. Lutz als Torwart.
    Bilder …
    Stationen eines kurzen Lebens, von dem jede Stunde in Liebe eingebettet war. In die Liebe des alten Adams. In den Stolz, in das Glück, in die Zukunftshoffnung eines Vaters.
    Am Nachmittag des nächsten Tages landete das Transportflugzeug mit dem Sarg in Düsseldorf. Ein Bestattungsunternehmer – die Firma Jakob Himmelreich und Sohn aus Vredenhausen – holte den toten Lutz Adams ab, in einem Zinksarg, den man in den richtigen Eichensarg stellte, weil das schöner und feierlicher aussah. Ernst Adams war mitgefahren und stand abseits, als man den Sarg aus dem Flugzeug hob. Auf der Rückfahrt aber saß er hinten im Leichenwagen, hockte auf einem Holzklotz neben dem Kopfteil des Sarges und sprach leise mit seinem Sohn.
    Jakob Himmelreich wollte das erst nicht zulassen, aber als er den stummen Blick des Alten sah, in dem die ganze Kraft eines störrischen Willens lag, zuckte er nur mit den Schultern und ließ Ernst Adams neben seinem toten Sohn Platz nehmen. »Er dreht noch durch«, sagte er leise zu seinem Fahrer, als sie über die Autobahn rumpelten. »Sitzt da und redet auf den Deckel ein. Verdammt, ist schon ein Schock für ihn. Der einzige Sohn. Und bei so einem dämlichen Autorennen, wegen eines so dusseligen Pokals …«
    Mehr sagte auch Jakob Himmelreich nicht, denn siebzig Prozent seiner Toten hatten früher in den Barreis-Werken gearbeitet. Und im Nebenort Burgfelde gab es den Bestattungsunternehmer Schmitz, die Konkurrenz …
    »Mein Junge«, sagte der alte Adams und legte die Hände flach auf den Teil des Sarges, unter dem Lutz' Gesicht liegen mußte. »Keiner weiß, wie es passiert ist, und niemand wird es herausbekommen. Nur ich weiß, daß du nicht wie ein Verrückter gefahren bist. Du warst immer vorsichtig, mein Junge. Du hattest Angst vor der Geschwindigkeit, aber du wolltest kein Feigling sein. Er hat dich in den Tod gefahren … dieser Barreis-Teufel, dieser Nichtstuer mit dem Stolz eines Königs, dieser Satan im Maßanzug! Du kannst jetzt nichts mehr sagen, aber ich fühle die Wahrheit … ich fühle sie, mein Junge … und ich werde sie hinausschreien, wenn die Zeit dazu gekommen ist …«
    Ernst Adams hielt die einsame Totenwache in der Leichenhalle von Vredenhausen. Die beiden Totengräber störten ihn nicht – im Gegenteil, sie holten ihm belegte Brötchen und abends eine große heiße Wurst, stellten ihm zwei Thermosflaschen mit Kaffee neben den Sarg und unterrichteten ihn über alles, was unterdessen in Vredenhausen geschah.
    Da war sich zunächst das Ordnungsamt nicht einig, ob es zulässig sei, daß ein Verwandter ersten Grades Nachtwache in der Leichenhalle hielt. Man fand keinerlei Kommentare dazu in den Bestimmungen und resignierte. Dr. Dorlach, der clevere Anwalt der Barreis', hatte versucht, diese stumme Demonstration des Alten, über die bald ganz Vredenhausen flüsterte, zu unterbinden. Aber es gab da keine Handhabe: Ein Vater kann Wache am Sarg seines toten Sohnes halten. »Bei Staatsmännern ist das sogar üblich«, sagte der Bürgermeister gequält. »Warum soll in einer Demokratie nicht auch ein Vater Ehrenwache stehen?«
    Um das Begräbnis selbst kümmerte sich Ernst Adams überhaupt nicht. Theodor Haferkamp organisierte alles … er kaufte ein schönes Eigengrab im besten Friedhofsteil, wo hohe Ulmen und Birken wuchsen und eine Parklandschaft bildeten; er bestellte den Pfarrer und den Orgelspieler, die Ehrenabordnungen von Sportverein und Motorclub, den Gesangsverein und die studentische Verbindung. Er ließ die Anzeigen in die Zeitungen rücken und die Trauerbriefe drucken, und da Theodor Haferkamp ein Freund von Sinnsprüchen war, setzte er über die Anzeigen das Motto: ›Der Herr gibt und nimmt … wir stehen immer in seiner Gnade.‹
    Als die Totengräber dem wachenden Ernst Adams die Zeitung mit dieser Anzeige brachten, lachte er bitter, zerknüllte sie und warf sie unter den Sarg.
    Die Anteilnahme Vredenhausens war ungeheuer. Kränze und Blumengebinde stapelten sich vor dem Sarg und verdeckten

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