Ein Mann will nach oben
trotzdem in der letzten Zeit auch andere Bahnhöfe ständig an Bedeutung für die junge Gesellschaft gewannen, vor allem der Lehrter Bahnhof, aber auch der Anhalter und der Schlesische Bahnhof und sogar der Bahnhof Charlottenburg.
In dem Laden hatte Karl Siebrecht sein Büro eingerichtet, dort befand sich das Telefon, mit dem die ständig wachsenden Bestellungen der Privatkundschaft auf Abholung von Gepäck entgegengenommen wurden. Es wurde bedient von Fräulein Palude, jenem ältlichen, etwas säuerlichen Fräulein, das einst auf dem Fuhrhof im Dienst gewesen war und das Karl – nicht ganz im Einverständnis mit Franz Wagenseil – übernommen hatte. Unter dem Siebrechtschen Einfluß hatte Fräulein Palude viel von ihrer Säuerlichkeit verloren, sie hatte sich sogar entschlossen, noch Schreibmaschine zu lernen, und schmetterte mit Verve auf diesem neumodischen Dings herum, was Franz Wagenseil bei seinen Besuchen im Büro immer wieder zu der Bemerkung veranlaßte: »Na also, bei mir haben Sie’s nicht lernen wollen, aber da braucht nur so ein junger Laffe zu kommen, sofort klappt’s. Die Öllsten sind immer die Döllsten.«
Unterstützt wurde Fräulein Palude von dem Bürolehrling Egon Bremer, einem fünfzehnjährigen, rothaarigen, sommersprossigen Bruder des Bäckers Bremer in der Wiesenstraße. Er war aber in der Hauptsache Laufbursche, Bote und Radler, immer zwischen dem Büro und den Bahnhöfen unterwegs, um die Weisungen des Hauptquartiers an die einzelnen Gespanne weiterzugeben.
Denn es war Karl Siebrecht noch immer nicht gelungen, in die Bahnhöfe selbst vorzudringen, sich dort Büros einzurichten. Es lag das nicht so sehr an den Bahnhofsverwaltungen, die sehr wohl den Segen seiner Einrichtung erkannt hatten. Es lag das nicht an der Bahn, es lag allein an der Firma Siebrecht & Flau, die nicht über das nötige Betriebskapital für Pacht, Kaution und Einrichtungen der neuen Geschäftsstellen verfügte. Daß aber trotz guten Geschäftsganges die Firma immer noch von der Hand in den Mund lebte und mit dem Gelde gerade so hinschrammte, lag wieder nicht an Karl Siebrecht und Kalli Flau, sondern es lag allein …
»Also sieh mal, Rieke«, sagte der nun zweiundzwanzigjährige Kalli zu der achtzehnjährigen Freundin, »nimm es bloß nicht tragisch, wenn Karl jetzt etwas gereizt ist. Ich würde esan seiner Stelle auch sein. Wir sparen und sparen, und der Franz wirft das Geld mit vollen Händen zum Fenster heraus! Jetzt soll er sich sogar Gewächshäuser bauen. Ananas will er züchten! Der hat ja ’nen Vogel!«
»Hat er schon imma jehabt«, antwortete Rieke Busch. »Und Karle weeß det ooch janz jut. Bloß: Karle is zu anständig! Ick ärjere mir ooch über Karlen, ick ärgere mir, weil er zu anständig is!«
Jawohl, die beiden Jungen, die aber nun schon junge Männer waren – Karl Siebrecht war jetzt zwanzig Jahre alt –, sparten. Ihnen war die Entwicklung des Geschäftes nicht so zu Kopf gestiegen wie – andern. Sie hatten sich anständige Monatsgehälter bewilligt, mehr nicht. Karl Siebrecht bekam dreihundert Mark im Monat, Kalli Flau zweihundertfünfzig.
Auf diesem kleinen Abstand hatte Kalli bestanden. »Nee, nee, Karl«, hatte er gesagt. »Das ist ja ganz schön, daß ich dein Teilhaber bin, und wir wollen es auch dabei lassen, aber eigentlich bin ich es doch nur auf den Wagenschildern. Du hast alle Verantwortung und alle Sorgen, ich bin nicht mehr als dein Wachthund.«
»Nun, nun«, hatte Karl Siebrecht erwidert, »jedenfalls bist du ein erstklassiger Wachthund, und so einer kostet viel Geld! Ich wüßte wirklich nicht, was ich ohne dich anfangen sollte!«
Das stimmte. Natürlich waren die Zeiten längst vorbei, als sie selbst auf dem Rollwagen fuhren. Karl Siebrecht hatte die Leitung der Geschäfte, er kümmerte sich um Abrechnung und Geldbeschaffung, um Disposition und Ausbau, er war auf den Bahnhöfen und auf dem Fuhrhof.
Aber Kalli Flau hatte mit den Menschen zu tun. Er besaß die Karl Siebrecht abgehende Gabe, mit jedermann von gleich zu gleich zu reden. Er war ständig bei Kutschern und Aufladern, Gepäckträgern und Dienstmännern. Und obwohl er wirklich nichts anderes war als ein Wachthund, ein Aufpasser, ein Kontrolleur der Firma, war er bei den Leuten beliebt. Er machte Witze mit ihnen, trank auch einmal eine Molle und einen Korn mit ihnen – nie mehr –, aber sie wußten, seineAugen waren scharf, in seiner Nähe ließ sich nicht ein Gepäckstück auf die Wagen mogeln.
Der
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