Ein Mann will nach oben
würden sie die verlorene Zeit schon wieder einbringen. –Es war spät in der Nacht, als die beiden Jungen müde und hungrig heimwärts schlichen. Sie hatten noch schwer arbeiten müssen, Felten hatte ihnen nichts geschenkt. »Gottlob, Karl«, sagte Kalli Flau. »Heute abend hat Rieke Stullen, nicht bloß Kartoffeln. Kartoffeln halten nicht vor. Hast du auch so ’nen Hunger?«
»Ich könnte auf der Stelle einen Elefanten anbeißen!«
»Morgens auf der ›Emma‹ – das ist –«
»– so ’n Trawler, ich weiß schon, Kalli. Sage mir nun endlich, was ist eigentlich ein Trawler –?«
So halfen sie sich über den Heimweg. Dann rissen sie die Küchentür auf und riefen: »Hunger, Rieke, Stullen! Stullen, Rieke! Stullen!«
»Brot? Ick hab keen Brot, ick hab gar nischt. Ein paar Kartoffeln sind noch da!«
»Aber …«
»Die zwei Mark dreiundachtzig …«
»Denkt ihr! Aba Vater hat wieder jetobt, und ick hab ihm Schnaps koofen müssen, det er bloß ruhig war. For det schöne Jeld Schnaps! Und nu stehn wa da …«
»Ohne Essen …«
»Ohne Geld …«
»Ohne Arbeet …«
»Na, wieso?« fragte Kalli Flau. »Dann essen wir eben Kartoffeln. Und morgen gehen wir zu den Äppelkähnen an die Spree. Du sollst sehen, da ist was zu machen! Schön warm ist’s hier. Und am Sonnabend kriegst du noch zehn Mark von dem Felten, Karl. Die Maschine können wir jetzt auch versetzen, denn nun haben wir die Quittung von Hagedorn. Ich weiß nicht, was ihr wollt. Ich finde, wir stehen eigentlich ganz gut da!«
ZWEITER TEIL • KALLI FLAU
24. Ein harter Winter
Der Apriltag war klar und sonnenwarm, ein vorweggenommener Maitag. Die Dienstmänner mit ihren roten Mützen, sechs oder sieben an der Zahl, saßen an der Westseite des Stettiner Bahnhofs behaglich im warmen Licht. Einige frühstückten ihre Stullen, andere dösten. Es war eine ruhige Viertelstunde zwischen zwei Zügen. »Da kommt auch der Paule!« sagte einer.
»Und seine Haifische wieder dabei!« meinte ein anderer.
»Sitzt auf seinem Karren und läßt sich ziehen!« kopfschüttelte ein dritter. »Daß die Blauen so was bloß dulden! Er tut ja keinen Handschlag mehr, der Küraß!«
»Laß ihn doch!« besänftigte der vierte. »Paule kommt an die Siebzig!«
»Dann soll er sich zur Ruhe setzen!«
»Und seine Tochter mit ihren drei Bälgern? Wo der Schwiegersohn sitzt, schon all die Jahre! Du lieber Mann, Paule hat fünf Mäuler satt zu machen!«
»Es soll aber nicht sein!« grollte der andere. »Sind die jungen Bengel Dienstmänner? Sie haben keine Lizenz, und sie zahlen keine Steuern! Mögen sie wegbleiben hier von unserem Bahnhof! Es ist gegen das Recht!«
»Du redest, wie du es verstehst! Was heißt schon Recht? Es war ein harter Winter, und ein Junger hat mehr Hunger als ein Alter!«
Unterdes war der Handwagen mit dem alten Küraß herangekommen. Kalli Flau half dem Steifbeinigen herunter, Karl Siebrecht rollte die Karre zu den anderen, so daß sie jetzt als letzte hinter den Karren der anderen Dienstmänner stand. Es war die hübscheste Karre, schön grün gestrichen und miteinem funkelnagelneuen Schild: »Dienstmann Nr. 77. Paul Küraß. Müllerstraße 87 – Hinterhof.« Der alte Mann war zu den anderen Dienstmännern getreten. »Wat en schöner Morjen heute morjen. Na, denn wolln wa mal sehen!« Er spuckte in die alten sehnigen Hände, wahre Vogelkrallen. »War woll nich ville los, heute vormittag?«
»Nischt, Paul«, antwortete ein Gutwilliger.
»Aber ick denke, der Schwedenzug bringt wat.«
»Und deine Haifische?« fragte ein anderer hitzig. »Denkst du, Paul, das lassen wir uns ewig gefallen?! Die sind nicht in der Innung, Paul, die schnappen uns das Brot weg!«
Unterdes hatten auch Karl und Kalli ein paar Mark gewechselt. »Ich geh dann zum Haupteingang, Karl!« hatte Kalli gesagt.
»Paß aber auf, daß dich die Grünen nicht schnappen!« Die Grünen waren die Gepäckträger, sie waren noch viel erbittertere Feinde der Jungen als die Dienstmänner.
»Sollen die aufpassen, daß ich sie nicht schnappe!« lachte Kalli unbekümmert und schob los, beide Hände in den Taschen. Er trug noch immer seine Matrosenkluft aus dem Januar. Viel hatte sie von ihrer Schönheit eingebüßt, aber der Junge hatte gewonnen: er sah fester aus, das mager gewordene Gesicht hatte etwas Sicheres bekommen. Die dunklen Augen blickten vergnügt und unbekümmert in die Welt. Sie schlugen sich vor niemandem nieder.
Auch Karl Siebrecht hatte sich in diesem Winter verändert
Weitere Kostenlose Bücher