Ein Mann zum Abheben
überlege, ob sie es absichtlich gemacht hat. Als sei sie zur Kleidersammlung gegangen und hätte sich ein Kleidungsstück ausgesucht, dass ihr absolut nicht steht, mit Trägern, die ihr ständig von den Schultern rutschen, und sorgfältig hochgerollten Hosenbeinen, eins kürzer als das andere. Man könnte meinen, sie hat sich für ein Kinderprogramm als der heimwerkende Nachbar kostümiert.
Schwer zu sagen, wer von uns bestürzter ist. Nancys nordstaatliche politische Korrektheit, Kellys südstaatliche Manieren, Belindas Verlegenheit über ihre schlecht formulierte Frage, meine seltsame plötzliche Vision von dem kahlköpfigen Mann, der ein Stück Scone auf Lynns Zunge legt - all das hat diesen Moment ins Leben gerufen, in dem wir gequält und wortlos dastehen und uns gegenseitig wie Fremde anstarren. Lynn macht eine Bewegung, um die Leiter wieder
aufzunehmen, und wir strecken ihr schlagartig unsere Hände entgegen, um ihr zu helfen.
»Nein, ich hab sie«, sagt sie und beugt die Knie.
Warum haben uns diese wenigen Worte so aus der Fassung gebracht? Was hat uns so verunsichert, dass es einen Schatten über unser traditionelles Dienstagsessen geworfen hat? Lynns Leiter ist schließlich nicht schwerer als unsere Kinder, die wir den ganzen Tag lang hochheben. Sie ist nicht schwerer als Einkaufstüten, ein Topf auf einer Töpferscheibe oder die Tabletts vom Essen-auf-Rädern, die Nancy und Belinda einmal in der Woche in den Transporter der Kirche laden. Sie ist nicht schwerer als ein Mann beim Sex und ganz gewiss nicht schwerer als die Metallgewichte, die Kelly und ich im YMCA bei der Hantelbank auflegen, neun Kilo auf einmal, die wir vorsichtig, systematisch über uns herunterlassen und von uns wegdrücken. Nicht schwerer als der tiefhängende Schwangerschaftsbauch oder die quadratischen Bücher mit Teppichmustern im Kofferraum von Nancys Auto. Frauen tragen die ganze Zeit Gewichte, deshalb ist schwer zu sagen, warum wir so schweigend dastehen, als Lynn die Knie beugt, die Leiter auf die Schulter nimmt und sie mit routinierten, flüssigen Bewegungen weg von uns, den dunklen Flur hinunterträgt.
Kelly wirft mir einen Blick zu, und ich weiß, was sie denkt. Sie denkt: »Das also willst du haben?« Sie meint nicht die Arbeit. Die Arbeit ist keine große Sache. Sie fragt mich, ob ich das Mitleid meiner Freunde ertragen könnte.
Belindas Idee ist ganz einfach. Nicht einfach in dem Sinn, dass sie leicht umzusetzen wäre, aber einfach vom Prinzip her. Ich stelle einen Topf her und zerbreche ihn dann im Rohstadium, bevor er gebrannt wird.
Als ich es das erste Mal versuche, erscheint es mir wie ein Sakrileg. Es ist ein unförmiger Topf, den ich aus dem Haufen mit Recyclinggut ausgrabe, ein vor Monaten misslungenes Experiment, trotzdem tut es noch immer weh, ihn absichtlich zu zerstören. Ich rolle ihn vom Knettisch herunter, aber erstaunlicherweise bleibt er ganz. Ich stoße ihn die Treppe aus Ziegelsteinen hinunter, die von der Küche in die Garage führt. Dadurch wir der obere Rand angeschlagen, aber der Körper bleibt unversehrt. Ich spiele mit dem Gedanken, ihn mit meinem Auto zu überfahren. Ich nehme einen von Torys Baseballschlägern aus dem Schrank mit den Sportsachen, werfe den Topf in die Luft und hole aus. Ich verfehle den Topf, aber er fällt mit endgültiger Bruchlandung auf den Boden.
Ihn wieder zusammenzusetzen ist ein bisschen heikler, aber ich wende eine Anschlicker-Technik an, die ich seit der Kunstakademie nicht mehr eingesetzt habe, und als ich im kleinen Brennofen, den ich manchmal zum Ausprobieren nehme, einen Schrühbrand mache, hält er. Die Glasur sammelt sich in den Ritzen und verschwindet schließlich, sie wurde aufgesaugt, als wäre das Innere des Topfes durstig. Es hat etwas Wildes, Unzivilisiertes.
Ich versuche nicht allzu hoffnungsvoll zu sein. Zum abschließenden Brennen bringe ich ihn zu Lewis, der anbietet, dafür zu beten.
Ja, denke ich, lass uns beten, und wir beide stehen mit gefalteten Händen in der kleinen Kaffeetassenfabrik, und ich höre ihm zu, wie er Jesus ermahnt, Schwester Elyse zu erheben und zu befreien. Amen.
Am nächsten Morgen bin ich um acht Uhr wieder da.
»Du wirst begeistert sein«, sagt Lewis. »Mach die Augen zu.« Ich folge ihm, und als ich sie öffne, hält er mir einen Topf zur Begutachtung hin. Ich spüre ein seltsames Ziehen
in meinen Eingeweiden, eine Rückmeldung aus meinen Zellen, dass es sich hier um einen bedeutenden Augenblick
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