Ein Mann zum Abheben
etwas traurig sein muss, wenn es realistisch sein soll?«
»Was sie damit meint«, erklärt Nancy geduldig, so geduldig wie eine Heilige, »ist, dass die Frauen in Romanen mit ihren Liebhabern durchbrennen. Im richtigen Leben dagegen bleiben die Frauen.«
Kapitel 4
In meinem Traum kann ich fliegen. Oder wenigstens schweben. Er ist wie ein Kolibri über mir. Er bewegt sich von einer Stelle meines Körpers zu einer anderen, und auf meiner Haut kann ich das schnelle Flügelschlagen spüren. Er senkt seinen Kopf, immer wieder, als ob er trinken will.
Ich scheine mich nicht bewegen zu können. Ich will mich nicht bewegen. In meiner Hand halte ich ein Telefon. Er wirft seinen Kopf an meine Brust, und ich sehe, wie die Flügel aus seinen Schulterblättern herauswachsen und die kräftigen, angespannten Sehnen von seinem Rücken zu den gekräuselten weißen Federn verlaufen. Dann bin ich oben, weg vom Boden, und zittere unter ihm, allem Anschein nach von nichts weiter als seinem Mund festgehalten.
Das Telefon klingelt.
Nein, es ist der Wecker. Ich höre, wie Phils Hand auf die Uhr schlägt, ich höre, wie das Bett knarrt, als er aufsteht. Erst als er im Badezimmer ist und die Dusche angemacht hat, stehe ich auf, wickle mir seinen Bademantel um und schlurfe in die Küche.
»Er hat sich wie ein Kolibri über mir bewegt«, erzähle ich Pascal, der auf der Küchentheke sitzt. Er hebt eine Pfote und beginnt gelangweilt, sich zu putzen.
Ein paar Minuten später kommt Phil aus dem Schlafzimmer herein und scheint überrascht zu sein, weil ich Omeletts
backe. Emmentaler, Spinat und ein schrumpliges Stück gekochter Schinken. Ich erzähle ihm, dass ich jemanden für die Eheberatung gefunden habe, eine Frau. Er erinnere sich doch, oder nicht? Ob er sich an sein Versprechen erinnere? Natürlich erinnere er sich, sagt er, und die Omeletts seien eine schöne Überraschung. Es ist eine Schande, dass er nicht mehr Zeit hat. Er isst im Stehen an der Küchentheke.
Im richtigen Leben bleiben die Frauen. Frauen können nichts besser als bleiben.
In der Grundschule ist Leichtathletiktag. Kelly, Nancy und ich sitzen auf Klappstühlen am Rand des Sportplatzes und schauen zu, wie die Kinder die einzelnen Stationen absolvieren. Kelly hat eine Geschenktüte für Tory mitgebracht, in der ein rot-orangefarbenes Rugby-Shirt steckt.
»Sie wird es lieben«, sage ich, und das wird sie auch. Es sieht fast so aus wie das von Gap Kids, das ich ihr gekauft habe, aber dieses hier ist ein Geschenk von Kelly, deshalb wird Tory es begeistert anziehen, so wie sie alles begeistert anzieht, was Kelly ihr mitbringt. Sie wird vielleicht sogar darauf bestehen, darin zu schlafen.
»Wie niedlich«, sagt Nancy. Seit Jahren schon hätte sie Kelly zu gern gefragt, warum sie keine Kinder hat, und sie glaubt mir absolut nicht, wenn ich ihr sage, dass ich es auch nicht weiß. Es ist ganz klar, dass Kelly welche wollte. Ist Mark zu alt? Er hat aus einer früheren Ehe erwachsene Kinder, also ist körperlich bei ihm alles in Ordnung. Hat sie ein Problem, oder haben sie einfach nur vor der Hochzeit eine Art Abkommen getroffen, nach dem er all das nicht noch einmal mitmachen muss?
Manchmal denke ich, Nancy sieht aus wie die Heldin aus einem viktorianischen Roman. Das gilt ganz besonders für
einen Tag wie heute, wo sie sich in eine weiße langärmlige Bluse und einen lockeren cremefarbenen Musselinrock gehüllt hat. Auf dem Kopf trägt sie einen breitkrempigen Strohhut, und sie ist sehr darauf bedacht, ihre Füße unter dem Rock zu halten. Sie erzählt uns von der Tochter der besten Freundin ihrer Mutter. Warum sie uns diese Geschichte erzählt, weiß ich nicht, denn weder Kelly noch ich kennen die fragliche Dame, doch Nancy ist voll von Geschichten.
Wie auch immer, diese Dame war mit einem wortkargen Mann verheiratet. Ihre Ehe steckte in einer Krise. Vermutlich spricht sie insgeheim von mir oder sogar von Belinda. Ich werfe einen Blick zu Kelly. Mark sagt nie etwas. Verdammt, jede von uns könnte gemeint sein.
»Er war ein bisschen wie Phil«, sagt Nancy schließlich. Okay, toll, sie spricht von mir. Sie erzählt uns, wie dieses Mädchen ihrem Mann von Zimmer zu Zimmer gefolgt ist und versucht hat, ihn zu einem Gespräch zu bewegen. Als er die Badezimmertür zugemacht hat, hat sie sich davor gelegt, die Wange auf den Teppich, und durch den Türschlitz mit ihm geredet. Ich zucke zusammen, das kommt mir bekannt vor. Mitten in der Nacht hat sich diese Frau im
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